Entschlossen stieg Minna die Wendeltreppe hinab. Vermutlich war das eine dumme und vor allem gefährliche Idee, aber wenn sie bei der Falltür wartete, würde Raban Krull sie bald finden. Er würde sie mit finsterem Wolfsgesicht nach draußen zerren und trotzdem alles leugnen, vielleicht behaupten, die Treppe führe nur in einen weiteren Lagerraum. So wäre nichts gewonnen. Außerdem wollte sie das Labyrinth sehen. Siemusste es sehen. Elf Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter sie hierher geführt hatte, und plötzlich schien es Minna, als hätten die verschlungenen Tiefen in all der Zeit stumm nach ihr gerufen. Ein Prickeln wanderte durch ihren Körper, als seien die Stufen, die sie hinabschritt, elektrisch geladen.
Noch immer versperrte der gemauerte Schacht die Sicht, doch je tiefer sie kam, desto heller wurde es. Es war das Licht einer Dämmerung, dunkles Gold, in dem Schatten lebten. Merkwürdig an einem Ort, der so tief unter der Erde lag.
Minna erreichte das Ende der Treppe, das Mauerwerk blieb hinter ihr zurück. Wie zur Begrüßung kitzelte Staub in ihrer Nase, vermischt mit dem schweren Duft von altem Papier und Druckerschwärze. Ihr Herz machte einen Sprung. Hier war es. Das Bücherlabyrinth.
Eine lange Reihe von Regalen erstreckte sich vor ihr, und zwischen den hölzernen Wänden gab es immer wieder Lücken, die in angrenzende Gänge führten. Dieser Ort war in der Tat ein Labyrinth. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Irrgarten aus Büchern. Dicht an dicht standen sie in den Regalen und hüteten die tintenschwarzen Geheimnisse in ihrem Inneren. Ein besonderes System oder eine Ordnung schien es nicht zu geben. Dicke Wälzer standen neben dünnen Heftchen, schmucke ledergebundene Prachtausgaben neben vergilbten Taschenbüchern. Minna überflog die Titel und entdeckte ein Buch über den Walfang, eine lateinische Grammatik und ein Vorlesebuch für Kinder, die in trauter Eintracht nebeneinander standen. Wie sollte man an diesem Ort jemals ein bestimmtes Buch finden? Es musste einen Trick dafür geben, ein weiteres Geheimnis der Büchersucher.
Minna bog in einen Gang ein. War es der, den sie auch mit ihrer Mutter genommen hatte? Die Regale ragten doppelt mannshoch empor und zwischen ihre Oberkante und die Gewölbedecke hätte leicht ein weiterer Mensch gepasst. Gewaltige Ausmaße – und dabei konnte dies nur ein kleiner Teil des Labyrinths sein. An einer Wand zu ihrer Rechten entdeckte Minna eine Treppe, die weiter in die Tiefe führte, und eine zweite, die zu einer schmalen Galerie mit noch mehr Bücherregalen anstieg. Kein Wunder, dass es hieß, man könne sich in diesem Labyrinth verlieren.
Minna warf einen Blick zurück. Sie war weiter gegangen, als sie gedacht hatte. Wie in Trance musste sie an den Regalen vorbeigeglitten sein. Ihr Finger schimmerte staubig von den Buchrücken, über die er gestrichen hatte. Doch sie wusste noch genau, woher sie kam. Sie war beinahe nur geradeaus gelaufen, den Rückweg zu finden, sollte also kein Problem sein. Trotzdem wäre es wohl besser, ihr Glück nicht weiter zu strapazieren und jetzt umzukehren. Ob Raban Krull ihr schon auf den Fersen war? Minna lauschte, doch sie hörte weder Schritte noch das grimmige Murmeln des Büchersuchers. Aber da war etwas anderes. Ein fernes, gedämpftes Rascheln, als blättere jemand durch die Seiten eines dicken Buches. Minna legte den Kopf schief, in der Hoffnung, der Laut könne so besser an ihren Locken vorbei in ihre Ohren dringen. War sie doch nicht allein hier unten?
»Hallo?«
Keine Antwort.
»Ist da jemand?«
Ihre Stimme verhallte im Schweigen der Bücher. Minna zögerte. Es wäre schlauer, jetzt umzudrehen, ganz bestimmt wäre es das. Aber würde ein wahrer Büchersucher so handeln? Büchersucher waren Menschen, die sich durch die Tiefen des Labyrinths kämpften, Unentdecktes aufspürten, Rätsel lösten, Geheimnisse lüfteten. So hatte Minna es sich immer ausgemalt. Ein Büchersucher würde nicht einfach umkehren.
Sie marschierte tiefer ins Labyrinth. Vor dem inneren Auge sah sie ihren Vater aus purer Verzweiflung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und vermutlich hatte er recht damit. Aber Raban Krull würde ihr jeden Moment ins Labyrinth folgen und wenn sie sich verirrte, konnte sie immer noch um Hilfe rufen. Sie bog in den Gang ein