Prolog
Das Licht der Spätnachmittagssonne warf breite Streifen durch die Fabrikfenster, als sie die Halle betrat. Erstaunt, die Tür unverschlossen vorgefunden zu haben. Sie hatte dem Druck nachgegeben und war mit lautem Knarzen aufgegangen. Offenbar war das Schloss beschädigt und nicht repariert worden. Mit festem Ruck schlug sie die Tür zu und hielt inne.
Wie verwahrlost alles wirkt, dachte sie, als sie die Spinn-weben registrierte, die sich entlang der Decke zogen und teils in Fetzen hinabhingen. Durch eine zerbrochene Glasscheibe wuchs wilder Wein.Und es riecht anders als früher, nach feuchten Wänden und kaltem Rauch.
In einer Ecke sah sie Schnapsflaschen liegen, daneben über den Boden verstreute Zigarettenstummel. Gegenüber der Druckstraße war ein großflächiges Graffiti aufgesprayt, offenbar nutzten Jugendliche die Halle als Partyraum, was in ihren Augen einer Entweihung gleichkam.
Es gab einiges zu tun, um der Fabrik zu altem Glanz zu verhelfen. Und sie fragte sich, wie zum Teufel Cyril rechtzeitig fertig werden wollte. Aber er war Perfektionist, sicher hatte er genügend Leute engagiert, die dafür sorgten.
Nur eine Woche bis zum großen Event …
Zögernd machte sie einen weiteren Schritt in das Gebäude, und dann noch einen. Sand knirschte unter ihren Füßen, und von irgendwoher kam ein Klackern. Abrupt blieb sie stehen. Lauschte, in der plötzlichen Angst, nicht allein zu sein. Durchscannte den Raum.
Ihr Blick fiel auf die Zweige, die durch das kaputte Fenster ragten und nun im Wind gegen den Rahmen schlugen. Erleichtert atmete sie aus.
Jetzt war es wieder still. In ihrem Kopf tönte es umso lauter.
Heute vor zehn Jahren war Zazàs Todestag gewesen, und die aufsteigende Trauer schnürte ihr unvermittelt die Luft ab.
Sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Aber nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, zur Polizei zu gehen, hatte sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Sie war spazieren gegangen, um der inneren Unruhe Herr zu werden. Schließlich hatten ihre Füße sie zu der alten Fabrik geführt, den ganzen Weg von Tarascon hierher. Am Ende war sie beinahe gerannt.
Ein letztes Mal wollte sie sich die Geschehnisse in Erinnerung rufen, jedes einzelne Detail, bevor sie ihre Aussage machte.
Reglos stand sie da, alle Sinne aufs Äußerste gespannt.
Die Stille war unheimlich. Und auf einmal konnte sie Zazàs Anwesenheit spüren. Sie war da, als wäre sie nie weg gewesen.
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Bilder stürmten auf sie ein und sie wusste, dass sie ihnen nicht länger entkam. Die anstehende Modenschau hatte den Schleier von dem mühevoll verdrängten Wissen gerissen. Alles war wieder da, ganz präsent. Ungeschönt und nackt.
Nein, sie konnte und durfte ihr Wissen nicht weiter für sich behalten, das war ihr heute bewusst geworden. Sie hatte schon viel zu lange geschwiegen. Sie musste die Geschehnisse offenbaren, den Mord zur Anzeige bringen, um endlich für Gerechtigkeit zu sorgen.
Sie atmete tief ein und wieder aus. Ging weiter. Entschlossen, sich den Bildern zu stellen.
Bei der langen Produktionsbahn, auf der die mit Farbe präparierten Rahmen früher prägend über die Stoffe gefahren waren, tanzten Staubkörnchen im goldenen Licht. An der Stirnseite die ehemals weiß gekachelte Wand, an der noch immer die rotbraune Farbmelange vom Reinigen der Rahmen klebte.<