Berlin-Prenzlauer Berg, am selben Tag
Lena
Ihr Atem bildete kleine Nebelschwaden in der frostigen Luft. Sie trat in die Pedale, die eisige Kälte biss in ihre Wangen, während Lena sich ihren Weg durch die Straßen Berlins Richtung Charlottenburg suchte. Nachdem sich die kilometerlangen Staus des Vormittags aufgelöst hatten, lag die Stadt nun unter einer Decke aus frostiger Stille, durchbrochen nur vom gelegentlichen Rauschen einzelner Autos, die sie überholten. Der strenge Ostwind trieb die Menschen auf kürzestem Weg in ihre Wohnungen und beheizten Büros. Oder in die Praxen der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte.
Während Lenas Fahrrad über den rauen Asphalt glitt, fühlten sich ihre Gedanken an wie die herumwirbelnden Blätter, die nie von jemandem aufgekehrt wurden. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, ihr beim Ausräumen der Wohnung von Oma zu helfen, und war erleichtert, dass sie so um den Besuch der Mensa herumgekommen war. Nicht, weil das Essen dort nicht gut gewesen wäre – im Gegenteil. Die Kantine der Kunsthochschule bot eine Vielzahl schmackhafter veganer Gerichte. Doch der Moment, in dem sie mit einem Tablett in der Hand nach einem freien Platz suchte und sich überwinden musste, Kommilitonen anzusprechen, versetzte sie in die altbekannte Panik.
Ihre Therapeutin hatte behauptet, es sei unmöglich, sich ständig ausgegrenzt zu fühlen. Doch Lena war sich ziemlich sicher, dass sich ihre Therapeutin irrte. Tatsächlich schien das Gefühl des Ausgegrenztseins ihr ständiger Begleiter zu sein. Es war sozusagen ihr Standardmodus. Ab und zu gab es ganz kurze Augenblicke der Erleichterung, in denen sie sich zwar immer noch außen vor, aber weniger einsam fühlte. Momente wie dieser, wenn sie dem sozialen Druck entkam, sich unter Menschen zu mischen und Gesellschaft zu suchen.
Als sie den menschenleeren Tiergarten erreichte, verlangsamte sie ihren Tritt. Die kahlen Bäume ragten wie stumme Zeugen in den grauen Himmel, ihre Zweige in der Winterluft wie erstarrt. Hier, in der relativen Stille des Parks, schien die Zeit langsamer zu fließen. Eingefangen in der winterlichen Ruhe, konnte sie sich auf sich selbst konzentrieren, ohne das Gefühl zu haben, beobachtet oder bewertet zu werden.
Plötzlich, fast wie eine Erscheinung, erblickte Lena im Augenwinkel einen großen, räudigen Hund. Sie bremste und sah genauer hin. Er war mit einem kurzen Strick an einen Laternenmast gebunden und zitterte. Statt eines Halsbands lag ein speckiges Seil um seinen Hals, dem sie ansah, dass er es schon lange trug. Sein Fell wirkte struppig und sie konnte mit bloßem Auge seine Rippen zählen. Lena stieg ab und ging langsam, Schritt für Schritt auf ihn zu. Sie hatte Respekt vor fremden Hunden und dieser reichte ihr bis zur Hüfte. Sie wusste nicht, was er erlebt hatte, wie er erzogen worden war, ob er womöglich aus Angst oder einem Reflex zuschnappen könnte. Doch der Hund sah einfach nur müde aus, seine Augen waren rot geädert und voller Traurigkeit.
Lena blickte sich um, halb in der Hoffnung, den Besitzer zu entdecken, halb wünschte sie sich, ihn nicht zu finden. Was konnte das schon für ein Mensch sein, der einen Hund hier in der Kälte anband? Weit und breit war niemand zu sehen.
Sie ging in die Hocke. »Du Armer, wer hat dich denn hier angebunden, wo ist denn dein Herrchen oder Frauchen?«, sagte sie leise. Sie zog die Handschuhe aus und ließ ihn an ihrer Hand schnuppern, dann strich sie ihm sachte über die Flanke, kraulte ihn vorsichtig hinter einem Ohr. Sofort schmiegte er seinen Kopf in ihre Hand. Vorsichtig tastete sie das Seil um seinen Hals nach einer Hundemarke ab, aber vergeblich. Nach kurzem Zögern wagte sie es, ihn mit beiden Händen zu streicheln. Sein Fell fühlte sich stumpf und ungepflegt an, aber er hatte bereits ihr Herz erobert. »Sie waren wohl nicht besonders nett zu dir?« Er legte den Kopf schief, als versuchte er, sie besser zu verstehen. Lena hatte einmal gelesen, dass Hunde das einerseits taten, um Empathie zu zeigen, andererseits auch, um trotz ihrer langen Schnauze das sehen zu können, was direkt vor ihnen lag.
Ohne länger zu zögern, versuchte Lena jetzt das Seil zu lösen, das den Hund gefangen hielt. Es war gar nicht so einfach, derart festgezurrte Doppelknoten zu öffnen. Insgesamt waren es drei, einer am Mast, zwei am Strick um den Hals. Es wirkte, als habe jemand viel Mühe darauf verwendet, jeglichen Selbstbefreiungsversuch des Hundes zu verhindern. Seine dunklen Augen folgten ihren Bewegungen, als würde er ihre Absichten verstehen. »Autsch«, entfuhr es ihr, als sie sich einen Fingernagel einriss, aber schließlich bekam sie den Knoten am Laternenmast auf. Sie ließ das Ende des Seils auf den Boden fallen. »Na los, lauf nach Hause«, sagte sie zu ihm, aber der Hund rührte sich nicht von der Stelle. Er sah sie nur an, die Augen voller Unsicherheit.
»Los, geh schon«, ermutigte sie ihn mit festerer Stimme, streckte den Arm aus und zeigte die Allee hinunter, d