2. Kapitel
Julius
Ich fasse den Irrsinn noch mal zusammen«, sagte ich und setzte die Sonnenbrille ab, um im Gesicht meines besten Freundes nach Anzeichen suchen zu können, dass er nun auch noch sein letztes bisschen Verstand verloren hatte.
Wir lagen nebeneinander auf unbequemen Plastikliegen vor einem himmelblauen Baumarkt-Swimmingpool im Hintergarten eines Reihenendhauses in Zehlendorf, nahe Mexikoplatz. Es war Mitte Mai. Berlin hatte gerade erst eine Starkregenperiode überstanden, die nun von einer drückenden Hitzewelle abgelöst wurde, weswegen Raphael und ich Shorts und T-Shirts trugen. Bestes Badewetter, hätte es da nicht das klitzekleine Problem gegeben, dass der halb eingesunkene Planenpool vor uns leer war; die langsam verdunstenden Regenpfützen darin einmal ausgenommen.
»Du hast eine Frau im Internet kennengelernt und dich zum Blind Date verabredet. Und jetzt soll ich mich statt deiner mit ihr treffen?«
Die Idee, die mir Raphael gerade unterbreitet hatte, klang in meinen Ohren in etwa so attraktiv, wie wenn er mich aufgefordert hätte, mein gesamtes Vermögen in einen Verleih für gebrauchte Ohrenstäbchen zu stecken.
»Tu es mir zuliebe«, sagte er grinsend. Wobei ich vermutlich der einzige Mensch auf dem Planeten war, der Raphaels herabgezogene Mundwinkel als Grinsen deuten konnte. Die meisten anderen würden darin eine schmerzverzerrte Grimasse sehen.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der sein Spitzname (Spargel) Menschen mit albernem Humor (wie mir) ein Lächeln hatte abringen können. Letztes Jahr noch, als er hundertfünfundzwanzig Kilo auf die Waage gebracht hatte und der Aktienkurs von Dr. Oetker in die Knie ging, weil der Umsatz an Tiefkühlpizza einbrach, sobald er im Urlaub war. (Nicht mein Spruch, sondern seiner. Anwaltshumor vermutlich.)
Heute wünschte ich mir die Tage zurück, in denen er wegen seines Gewichts gehänselt worden war. Die Momente, als er den dummen Idioten, die meinten, ihn wegen seines Äußeren in der Öffentlichkeit beleidigen zu müssen, mit seiner Schlagfertigkeit verbal eins vor den Latz ballerte. Wie etwa dem Kellner, der Raphael im Schnitzelrestaurant fragte: »Du brauchst keine Karte, oder? So, wie du aussiehst, bestellst du eh alles auf einmal!«
Während ich noch darüber nachdachte, ob ich das wirklich gehört hatte, hatte Spargel mir bereits die Pranke auf die Schulter geklatscht und mich mit seiner allerbesten Knochenbrecher-Imitationsstimme gefragt: »Julius? Was errr gesagt?«
Worauf ich ihm antwortete: »Lass dich nicht ärgern, Sergei. Wir sind hier, um zu feiern, dass der Kronzeuge in deinem Mordprozess ganz plötzlich verschwunden ist.«
Okay, unsere Mafiosi-Impro-Show war vielleicht keine kreative Meisterleistung gewesen, zeigte jedoch Wirkung. Sie hätten sehen sollen, wie dem Kellner, der sich schon mit Betonschuhen am Grund des Landwehrkanals sah, das Blut aus dem Gesicht schoss. Womit er an jenem Tag in etwa so blass ausgesehen hatte wie Raphael heute. Sechzig Kilo leichter, nur noch ein Schatten seiner selbst.
Erwähnte ich bereits, dass mein bester Freund nicht nur auf einer unbequemen Gartenliege, sondern im Sterben lag?
Tut mir leid, aber wieso sollte ich es Ihnen schonend beibringen? Das Leben ist das Gegenteil von fair. Wer zur Untermauerung dieser These noch nach einem Beweis suchte, hatte ihn mit Raphaels Schicksal gefunden. Es gab Menschen, bei denen man lange nachdenken musste, wenn man sie im Nachruf in einem guten Licht zeichnen wollte, ohne von der Trauergemeinde als heuchlerischer Lügner entlarvt zu werden. Bei Raphael würde es umgekehrt sein. Hier würde man aufpassen müssen, nicht die eingeplante Rededauer um zweieinhalb Stunden zu überschreiten, weil man all seine Vorzüge aufzählen wollte. Keine Bange, ich will es an dieser Stelle kurz halten: Mir war kein großzügigerer, offenherzigerer und klügerer Mann bekannt als er. Raphael Nader, der zeit seines Lebens wieder und wieder grundlos gedemütigt wurde, ließ die Wut und Verzweiflung, die er darüber empfunden haben muss, nie an anderen aus. Nicht an seinem kleinen Bruder, der ihm körperlich unterlegen gewesen wäre; nicht an seiner ersten und einzigen großen Liebe Kathrin, mit der er meines Wissens nie einen nennenswerten Streit hatte, selbst an dem Tag nicht, an dem sie ihn für ihre Kosmetikerin verließ. Und nicht einmal im Gerichtssaal, wo er selbst bei seinen pointierten Plädoyers nie die Grenze des Anstands überschritt.
Manchmal war ich versucht, ihm vor seiner Strafrechtskanzlei aufzulauern, um zu überprüfen, ob Raphael wirklich nach getaner Arbeit nach Hause ging oder nicht vielleicht wie Dexter2.0, mit Knochensäge und Schweißerhaube ausgestattet, jenen Klienten einen Besuch abstattete, von denen er wusste, dass sie schuldig waren. Ich meine, irgendwo musste er doch mal seine Verzweiflung darüber rauslassen, dass er schon zu Schulzeiten gemobbt worden war. Warum nicht in einer schalldicht isolierten Garage eines verlassenen Industriekomplexes? Ja, richtig erkannt, ich schaue gerne True-Crime-Serien.
»Es ist doch nur ein Treffen«, sagte er, während ich in meinen Shorts vergeblich nach einem Taschentuch suchte.Verdammter Heuschnupfen!
Ich fragte ihn: »Weshalb schreibst du ihr nicht einfach die Wahrheit, die da lautet: ›Tut mir leid. Ich muss unser Date absagen, mir geht es heute zu schlecht.‹«
»Heute?« Raphael sah mich mit Augen an, deren Äpfel einst weiß gewesen waren, nun aber die Farbe von geronnenem Eigelb hatten. Eine der Spätfolgen seiner Krankheit. Was für eine Ironie des Schicksals. Er, dem es nie in den Sinn gekommen wäre, Spinnen mit dem Staubsauger einzusaugen