2.Der Regenwurm
»Der Preis allen Wachstums ist Schmerz. Das ist die schlechte Nachricht. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Der Schmerz vergeht, und das Wachstum bleibt.«
Lars Amend
Ich öffnete meine Augen. Im Zimmer war es dunkel, aber es fiel schon graues Morgenlicht durch das Fenster. Die Tür zum Balkon stand offen. Kalt war es nicht, obwohl das Jahr gerade erst begonnen hatte. Die Stadt, die uns zu Füßen lag, erwachte allmählich. Motorengeräusche, Sirenen, Blaulicht. Ohne mich zu bewegen, blieb ich noch für einen Moment so liegen und dachte über meinen Traum mit der alten Frau und dem jungen Mann nach, den ich vor langer Zeit schon einmal geträumt hatte, aber immer noch nicht verstand. War ich dieser Junge? War die Frau meine Mutter?
Die Geschichte ergab keinen Sinn, jedenfalls nicht, wenn ich versuchte, sie auf mich zu beziehen. Vielleicht wollte ich den Traum auch gar nicht verstehen. Oder vielleicht wollte ich, konnte aber nicht. Vielleicht hätte ich sogar gekonnt, aber die Wahrheit wäre noch zu schmerzhaft gewesen. Vielleicht war mein Gedankenspeicher auch einfach nur randvoll. Und vielleicht war ich zu erschöpft für all diese Gedanken. Eine Menge Vielleichts so früh am Morgen.
Mein Körper verlangte nach einem Kaffee, aber ich wusste schon, dass die Suche danach an diesem Ort erfolglos bleiben würde. Das Café im Erdgeschoss öffnete erst in ein paar Stunden, und alle anderen Optionen, die ich in den vergangenen Tagen und Wochen schon ausprobiert hatte, waren keine. Selbst für einen Koffein-Junkie wie mich.
Ich wollte aufstehen, spürte mich aber nicht. Regungslos lag ich da, wie ein Hundert-Kilo-Sack, bei dem jegliche Anstrengung ins Leere läuft. Die vergangenen Monate hatten mich komplett ausgelaugt. Eine Zeit wie auf Drogen, wie in Zeitlupe und auf Speed zugleich. Wie in einem Film, der von Szene zu Szene das Genre wechselt. Doch im Gegensatz zur Hauptfigur, die irgendwann voller Tatendrang vom dreckigen und schmerzbehafteten Boden aufsteht, um die Welt oder zumindest sich selbst zu retten, lag ich weiter einfach da. Ich war noch nicht bereit für diesen Kampf. All das erschien nie wirklich real, nie zum Greifen nah. Wie in einem Traum, nur dass es keiner war.
Es stimmt, was sie sagen. Wenn deine Mutter stirbt, wird nie wieder etwas so sein wie zuvor. Dein altes Leben ist vorbei. Dein Herz wird gebrochen, und der Riss wird bleiben. Ganz egal, wie sehr du dich auch bemühst, ihn mit Klebstoff aus Gold zu füllen. Der Riss in deinem Herzen wird nicht mehr verschwinden.
Es gibt Erfahrungen im Leben, die uns unmittelbar in der Tiefe unseres Wesens treffen und uns mit kaum auszuhaltenden Schmerzen, auf die wir nicht vorbereitet waren, in zwei Hälften zerreißen. Wir alle wissen, dass es diese Erfahrungen gibt. Wir alle wissen, was eines Tages auf uns zukommt. Wir hören diese Geschichten in den Nachrichten, lesen über sie in den sozialen Netzwerken und sehen sie bei Freunden. Künstler schreiben Songs darüber, drehen Kinofilme, die Buchhandlungen überall auf der Welt sind voll davon. Es kann jeden von uns jederzeit zu jedem beliebigen Zeitpunkt des Lebens treffen. Einfach so, ohne Grund und ohne Vorwarnung. Und obwohl wir das wissen, tun wir so, als hätte das Heute keine Bedeutung und der Morgen sei garantiert. »Warum ist das Glück so schwer zu fassen?«, wurde ich einmal gefragt, und ich antwortete: »Weil wir das Glück stets in der Zukunft suchen und nie in diesem Moment.«
Nie in diesem Moment. Nie in diesem Moment. Nie in diesem Moment.
War ich denn glücklich in diesem Moment? Genau hier, in diesem kargen Zimmer auf der fünften Etage? Nein, war ich nicht. Ich war alles andere als glücklich. Ich hätte nicht einmal beschreiben können, wie ich mich in all dem Gedankenchaos fühlte, aber das Wort Glück wäre ganz sicher nicht vorgekommen. Ich lag da, voller Verzweiflung, und suchte in einer ungewissen Zukunft nach Antworten auf so viele Fragen.
Die Menschheit (mich eingeschlossen) scheint bei all dem rasanten technologischen Fortschritt, auf den sie sich so unglaublich viel einbildet (mich ausgeschlossen), trotzdem kaum etwas über die wahre Essenz des Lebens gelernt zu haben. Dass nämlich genau dieses Leben schon mit deinem nächsten Wimpernschlag vorbei sein kann. Gott hat uns ein Bewusstsein gegeben. Wir wissen, dass wir existieren und dass wir, aus der Perspektive des Universums, schon sehr bald sterben werden, die Hülle des menschlichen Körpers verlassen und