: Tilo Eckardt
: Unheimliche Gesellschaft Die Affäre Thomas Mann | Ein spannender historischer Kriminalroman im Thomas Mann Jubiläumsjahr!
: Verlagsgruppe Droemer Knaur
: 9783426560228
: Thomas-Mann-Romane
: 1
: CHF 16.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Stadt voller Flüchtlinge und Spitzel. Wer ist Freund, wer ist Feind? Mann& Müller auf der Spur eines Schattenmannes Im historischen Kriminalroman um das ungewöhnlichste Ermittlerteam ever heften sich der Schriftsteller Thomas Mann und sein junger litauischer Übersetzer an die Fersen eines mysteriösen Spions. Der ebenso elegante wie raffinierte Roman über Freundschaft und die Kraft der Literatur lässt die Grenzen zwischen historischer Wirklichkeit und dichterischer Fiktion gekonnt verschwimmen. Oktober 1933. Thomas Mann sucht mit seiner Familie Zuflucht in Zürich, weil er in seiner Heimat Repressalien oder gar eine Verhaftung fürchten muss. Doch auch in der Schweiz ist die Lage alles andere als sicher. Der Dichter wird von Ängsten geplagt, die sich noch steigern, als die forsche Autofahrerin Katia Mann vor ihrem Haus in Küsnacht einen Mann anfährt, der anschließend spurlos verschwindet. Dem eilig herbeigerufenen Getreuen ?ydr?nas Miuleris alias Müller gelingt es nicht, die Identität des Unfallbeteiligten festzustellen. Dieser scheint auf rätselhafte Weise sein Äußeres zu verändern und den Spieß umzudrehen: Mit einem Mal fühlen sich Mann& Müller beschattet. Als Gerüchte laut werden, dass die Gestapo nicht davor zurückschreckt, Regimegegner bis in die neutrale Schweiz zu verfolgen, überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst versucht jemand Ludwik, Müllers vierbeinigen Gefährten, zu ermorden, dann entgeht er selbst nur knapp einem Anschlag. Doch war er das eigentliche Ziel? In einer Stadt voller Spitzel sind Mann& Müller auf Katia Manns zweifelhafte Fahrkünste und die Pünktlichkeit der Schweizer Bahn angewiesen, um einen Fall zu lösen, der - wie ihnen klar wird - einst im fernen Nida seinen Anfang nahm. Ein spannendes und höchst unterhaltsames literarisches Denkmal für den großen Thomas Mann. Tilo Eckardts historischer Krimi »Unheimliche Gesellschaft« lässt uns einen der größten deutschen Schriftsteller in neuem Licht entdecken. Der 2. Fall für Mann& Müller beruht auf wahren Begebenheiten um einen deutschen Spion in Litauen.  Das erste Mal gemeinsame Sache machten der Dichter und sein Übersetzer in »Gefährliche Betrachtungen«.

Tilo Eckardt ist deutsch-schweizerischer Lektor, Verleger, Autor und Literaturagent. Für die Arbeit an seinem ersten Thomas Mann Roman wurde er vom Nordic Cultur Fond und von der Klaip?da County Ieva Simonaityt? Public Library nach Nida in Litauen eingeladen. Gefährliche Betrachtungen entstand in der dortigen Autorenresidenz in unmittelbarer Nachbarschaft zu Thomas Manns ehemaligen Sommerhaus. Unheimliche Gesellschaft ist sein zweiter historischer Kriminalroman um den großen deutschen Schriftsteller.     

Kapitel eins


Ermutigung

Ich träume noch manchmal von der Kurischen Nehrung. Dann stehe ich auf der Großen Düne und schaue auf Nidden hinab. Ich spüre die Sonne im Rücken, und mein Schatten ist ein körperloser Mann auf Stelzen, der sich auf den makellosen Sand wirft. Wenn ich mich bewege, bewegt sich der Stelzenmann über den gerippten Untergrund und sieht aus, als würde er zittern. Am Fuße der Düne beginnt der Wald, und ich muss mich nur ein kleines Stück vorbeugen, um die weiße Gestalt zu sehen, die sich gemessenen Schrittes mit auf dem Rücken verschränkten Händen zwischen den sich im Wind hin und her wiegenden Bäumen bewegt. Thomas Mann trägt seinen Sommeranzug mit Tennisschuhen, steckt sich eine Zigarette an, raucht sie in einem Zug und wirft sie in den Wald, der sofort in Flammen aufgeht. Er ist nicht allein. Im gebührenden Abstand folgen ihm seine Niddener Zeitgenossen: Ich erkenne Ernst Mollenhauer, der alle paar Meter in die Knie geht und sorgsam die weggeworfenen Stummel des Dichters einsammelt. Da ist Max Pechstein, die Pfeife im Mund, er malt mit einem Pinsel Striche in die Luft. Frau Bryl jongliert mit dampfenden Zeppelinen und ruft dabei: »Levez-vous!« Hinterdrein schwebt Paul Isenfels in wallenden Gewändern und photographiert die vor ihm Gehenden mit einem winzigen Apparat. Ich lächle und winke, und der Dichter dreht sich zu mir um und zieht besorgt die linke Augenbraue hoch und höher, er droht dabei mit dem Zeigefinger, und dann bewegt sich der Boden unter mir, und eine Hand streckt sich aus dem Sand und tastet nach meinem Schatten, der zurückbleibt, während ich die Flucht ergreife. In Varianten des Traumes stehe ich in der Brandung der Ostsee, Blätter von Papier wehen in einer Windhose um mich herum, die Hand taucht aus dem Wasser auf, und der Dichter applaudiert sitzend in seinem Strandkorb. In besonders amüsanten Nächten reite ich auch mit Thomas Mann auf einem Elch durch den Nehrungswald.

Ich begehe nicht den Fehler, diesen Träumen eine Bedeutung zuzumessen. Sie sind nicht mehr als eine wilde Mischung von Erinnerungen, die mein Kopf, der auch im Wachzustand zunehmend Schwierigkeiten hat, die Dinge in eine Ordnung zu bringen, mir bröckchenweise hinwirft. Eine Mischung aus Bildern und Gefühlen, selten bedrohlich, oft unterhaltsam. Ich weiß, wem die Hand gehört, die nach meinem Schatten greift. Das Wissen um und die Erinnerung an eine ungesühnte Schuld waren es, die mich veranlassten, die Geschichte meines ersten Sommers mit Thomas Mann aufzuschreiben. Ich hatte sie teils als Geständnis, teils als Selbstvergewisserung zu Papier gebracht, ohne eine rechte Vorstellung davon, was nach Abschluss der Arbeit damit geschehen würde und wen sie interessieren könnte. Ich halte mich nicht für einen Menschen mit schriftstellerischem Talent. Ich bin nur ein Übersetzer und habe mir nie eingebildet, genügend Einbildungskraft für das Erfinden von Geschichten zu besitzen. Die Wahrheit aufzuschreiben, erfordert hingegen keinerlei schöpferische Kraft. Trotzdem war ich nach Abschluss der Arbeit erschöpft von der selbst auferlegten Pflicht, mir Wort für Wort die Schuldbrocken von der Seele zu schreiben, die seit Jahrzehnten auf mir lasteten. Darauf wollte ich es eigentlich beruhen lassen.

Doch der Dichter und meine Erlebnisse mit ihm beschäftigen mich weiterhin. Nichts nimmt Menschen meines Alters so sehr in Beschlag wie die Erinnerung. Wir haben viel Zeit dafür. Wer will also einem Mann von einhundertundzwei Lebensjahren vorwerfen, dass er in der Vergangenheit lebt? In einer Vergangenheit, die wie die eines jeden Menschen einmalig und unwiederbringlich ist, in meinem Fall aber zudem aufgrund der Beteiligten von erhöhtem Interesse für die Allgemeinheit? Tatsächlich beschleicht mich inzwischen gelegentlich ein unangenehm weihevolles Gefühl der Bestimmung. Es erstaunt mich selbst, denn hohles Pathos ist mir bei anderen Menschen ausgesprochen zuwider. Nein, es ging mir mit meinen Memoiren nie darum, meine eigene Rolle zu überhöhen. Doch es ist nun einmal die bescheidene Wahrheit, dass ich Seit an Seit gefahrvolle Situationen mit dem berühmten Dichter Thomas Mann durchgestanden habe, von denen keiner der Abertausenden Gelehrten und Studenten, die sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk des großen Mannes beschäftigen, zu berichten weiß. Deshalb hatte er mich einst am Ostseestrand als seine »glücklichste menschliche Akquise« bezeichnet. Und deshalb begann ich nach Abschluss des ersten Bandes mit dem Prolog für einen weiteren Band mit Erinnerungen, bevor mich die Kraft und die Lust verließen. Das Problem bestand vor allen Dingen darin, dass ich für das Schreiben an dem Computer, den mein Urenkel Jonas mir eingerichtet hatte, meinen Sessel verlassen und auf einem unbequemen Stuhl am Tisch sitzen musste. Schon nach kurzer Zeit verspürte ich ein Zwicken am Steiß, auf das ein Mann meines Alters gern verzichtet, wenn es sich vermeiden lässt. Also ließ ich meine Erinnerungen im Kopf und verfiel in meinen angestammten Tagesrhythmus.

Die Hälfte des Tages verbringe ich in meinem Sessel, die andere Hälfte in meinem Bett. Es handelt sich um einen sehr gemütlichen Sessel und um ein sehr bequemes Bett. Zwischen beiden liegen drei Meter. Von meinem Sessel aus ist alles, was ich von der Welt durch das Fenster sehe, die Spitze des Fernsehturms von Vilnius. Zwischen ihr und mir liegen ungefähr tausend Meter.