Buch 1
Abschiede
1800–1803
1
Sankt Petersburg, Herbst 1800
Es war merkwürdig still in Andrés Privatgemach.
Christina hob den Kopf und lauschte, als sie den Salon in ihrer Stadtvilla am Newski-Prospekt betrat. Ofenwärme und Parfümduft empfingen sie. Eine Wohltat nach der kühlen Brise auf ihrem Heimweg vomModegeschäft Haber, dessen Räumlichkeiten sich nur wenige Gehminuten entfernt befanden.
Kein Geräusch drang aus den Zimmern ihres Gatten.
Sie ließ sich von ihrer Dienerin den Umhang mit dem Fuchspelzbesatz abnehmen und drückte ihr die Entwürfe einer französischen Modezeichnerin in die Hände. Grauenvoll dilettantische Machwerke. Kein Wunder, ihr Mann André hatte die Empfehlung ausgesprochen. Die unbegabte junge Frau war die Tochter eines Diplomaten, dem er offenbar einen Gefallen schuldete.
Christina schätzte es nicht, wenn ihr andere ins Handwerk pfuschten. Wenn jemand frische Talente auf dem Modemarkt entdeckte, dann war sie das, niemand sonst. »Bring dies in mein Bureau. Und sorg dafür, dass mich niemand stört.«
»Sehr wohl, Madame.« Anouschka verschwand fast unter dem üppigen Mantel, als sie knickste.
Christina reagierte mit einer barschen Geste, als wollte sie ein Huhn verscheuchen. Ach, wie gingen ihr diese Lakaien auf die Nerven! Anouschka war die Letzte in einer langen Reihe von Schwachköpfen, von denen keiner Christinas Ansprüchen genügen konnte. Entweder waren sie tollpatschig, begriffsstutzig, faul oder durchtrieben. In den zwanzig Jahren, in denen sie als deutsche Einwanderin in Russland über leibeigene Bedienstete verfügen konnte, hatte es nicht eine gegeben, die sie zufriedenstellte. Anouschka gehörte zu der bangen Sorte, die aus Furcht, einen Fehler zu begehen, ihr devotes Verhalten auf den Höhepunkt trieb. Keine vor ihr hatte sich tiefer verneigt, keine vor ihr war schneller gelaufen, wenn Christina ihr einen Auftrag erteilte. Sie benahm sich wie eine Hündin, die auf ein Lob oder einen Knochen wartete.
Christina zog die Nadeln aus ihrem breitkrempigen Hut und warf ihn auf die Kommode zu ihrer Rechten. Anouschka sollte ihn später in die Schachtel legen. Sie außer mit Mantel und Mappe auch noch mit dem Hut gehen zu lassen, hätte die Kleine überfordert. Christina seufzte. Vielleicht sollte sie Anouschka so bald wie möglich verheiraten. Manche blühten in der Ehe auf. Im Geiste ging sie durch, welche ihrer Leibeigenen für eine Ehe mit Anouschka infrage kamen. Auf Alter und Zuneigung würde sie dabei keine Rücksicht nehmen.
Christina hatte viel von ihrem Deutschtum bewahrt, aber die russische Tradition der Leibeigenschaft bedeutete einige Vorteile, zumindest in der Position der Herrin.
Sie zupfte sich die Finger der seidenen Handschuhe ab, bevor sie das Accessoire abstreifte. Der Fächer lag griffbereit neben dem Diwan. Mit geübtem Griff klappte Christina ihn auf. Ihre Löckchen flogen, als sie sich Luft zufächelte.
Zwar war die Hitze des Sankt Petersburger Sommers jetzt im September verflogen, und in den Abendstunden waberten zartlila Nebel über die in Stein gefasste Newa, die Mojka und die Fontanka, aber seit einigen Monaten plagten Christina Schweißausbrüche, unabhängig vom Wetter.
Sie rupfte an ihrem Kleid, das unter der Brust gerafft war und in Wellen bis zu ihren Seidenschuhen fiel. Durch den Schweiß klebte der Stoff an ihrer Haut. Als wäre diese neue Mode nicht schon unvorteilhaft genug für eine Frau von dreiundfünfzig Jahren, die sich zwar Zeit ihres Lebens diszipliniert hatte, aber einem Praliné oder einem Kelch Ungarwein bei den gesellschaftlichen Ereignissen im Winterpalast gern zusprach. Diese neue Mode stand den blutjungen Mädchen gut, und sie besaß zweifellos ihre Vorteile. Nie zuvor konnten Frauen so viel Bewegungsfreiheit genießen. Aber was nützte der schönste Schwung, wenn sich bei jedem Schritt die Rollen an Bauch und Taille zeigten?
Bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr hatte sich Christin