: Ute Frevert
: Verfassungsgefühle Die Deutschen und ihre Staatsgrundgesetze
: Wallstein Verlag
: 9783835387584
: 1
: CHF 19.90
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 248
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
75 Jahre nach seiner Verabschiedung ist das Grundgesetz so beliebt wie nie zuvor. Wie aber entstehen diese Gefühle, und welche Bindungskraft entfalten sie? Ein Journalist, in Sachsen-Anhalt aufgewachsen, erinnert sich an den Trotz, mit dem er der DDR-Verfassung von 1968 begegnete. Im gleichen Jahr protestierten westlich der Elbe Zehntausende gegen die Einführung einer Notstandsverfassung, in der sie einen Angriff auf den guten Geist des Grundgesetzes erkannten. 1990 enttäuschte das wiedervereinigte Land viele seiner Bürgerinnen und Bürger, als nicht über eine gesamtdeutsche Verfassung beraten und abgestimmt wurde. Drei Jahrzehnte später stellen Prominente ebenso wie Schülerinnen und Schüler ihre »Liebeserklärungen« an das Grundgesetz ins Netz. Verfassungen lösen Gefühle aus, nicht erst seit 1949 und nicht nur in Deutschland. Welcher Art diese Gefühle sind, entscheidet über ihre Bindungskraft. Aber wie entstehen Verfassungsgefühle? Welche Hoffnungen und Erwartungen, welche Erfahrungen und Gefährdungen prägen sie? Wer hat sie, und wer vermisst sie? In diesem Buch beginnt Ute Frevert mit der revolutionären Reichsverfassung von 1848/49 und dem Herzblut, das Demokraten und Liberale in sie investierten. Sie prüft die Behauptung eines zeitgenössischen Staatsrechtlers, wonach die Verfassung von 1871 dem »Volksgefühl« lieb und teuer gewesen sei, und beschreibt die Bemühungen der Weimarer Republik, den Stolz der Bevölkerung auf die »freieste Verfassung der Welt« zu wecken. Und sie analysiert die wechselnden Verfassungsgefühle nach 1949: die Verwandlung von Desinteresse in Akzeptanz und Liebe im Westen, die Nachwirkungen plebiszitärer Zustimmung im Osten.

Ute Frevert, geb. 1954, Historikerin, ist Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin. Professuren an der Yale University sowie an den Universitäten Bielefeld, Konstanz und Berlin. Frevert ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und erhielt 1998 den Leibniz-Preis der DFG. Veröffentlichungen u.a.: Gefühlspolitik: Friedrich II. als Herr über die Herzen? (2012) und Vergängliche Gefühle (2013). Zuletzt hat Ute Frevert das Buch Writing the History of Emotions: Concept and Practices, Economies and Politics (2024); Emotions in History - Lost and Found (2011); Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland (2001); »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne (1995); Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft (1991).

II. Die Liebe zur Verfassung
im Zeitalter der Konstitutionen


»Es ist heute«, schrieb der badische Hofrat Carl von Rotteck 1830, »ganz eigens das Zeitalter der Constitutionen. Alles ruft nach ihnen, oder bestreitet sie, preist oder verwirft sie.« Auf welcher Seite der liberale Professor und Politiker stand, war bekannt: selbstverständlich auf der der »Constitution«, worunter er die »rechtsgemäße und auf Grundsätzen beruhende Verfassung des Staates« verstand. Sie regelte nicht nur das Verhältnis der »Staatsgewalten« zueinander, sondern enthielt auch Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Bürger.[1]

Solche Konstitutionen, Verfassungen oder Staatsgrundgesetze – all diese Begriffe waren damals im Umlauf – gab es bereits, allerdings nicht überall. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich 1787 eine Verfassung gegeben. Als sie zwei Jahre später in Kraft trat, dauerte es nur noch wenige Monate, bis in Frankreich die Revolution ausbrach. Schon im August 1789 legte die Pariser Nationalversammlung mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ein Verfassungsdokument vor, das diese Rechte garantierte sowie die Gewaltenteilung festschrieb. In der Präambel betonten die Volksvertreter, die Erklärung solle die Bürger »unablässig an ihre Rechte und Pflichten« erinnern,

damit die Handlungen der gesetzgebenden wie der ausübenden Gewalt in jedem Augenblick mit dem Endzweck jeder politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Ansprüche der Bürger, fortan auf einfache und unbestreitbare Grundsätze begründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Allgemeinwohl richten mögen.[2]

Welche Bedeutung dieser Erklärung zukam, zeigt sich an der Art ihrer Popularisierung. Wenn den Mitgliedern der französischen Nation ihre »natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte beständig vor Augen« sein sollten, musste man sie ihnen vor Augen führen. Eine eindrucksvolle Präsentation war das Ölgemälde, das der Maler Jean-Jacques-François Le Barbier wohl noch im gleichen Jahr anfertigte und das als Druckgrafik und Tapete große Verbreitung fand.[3] Es bildete die siebzehn Artikel auf zwei monumentalen Gesetzestafeln ab. Über ihnen ist eine jüngere Frau im einfachen roten Kleid platziert, kräftig und schmucklos. Sie hat ihre Ketten gesprengt und trägt nun die königliche Krone und den königlichen Mantel in blauer Farbe mit goldenen Lilien. Ihr Blick richtet sich auf einen Engel, der seinerseits den Betrachter anschaut. Mit der linken Hand deutet er auf die Gesetzestafeln, während die rechte ein Zepter hält und damit auf das über allem thronende Auge Gottes zeigt. Die Bildaussage war unmittelbar verständlich: Hier hatte sich die Nation aus ihren Fesseln befreit und ihre heiligen Rechte zurückerobert. Sie waren in Stein gemeißelt und gesetzlich fixiert (darauf verwies das römische Liktorenbündel zwischen den Tafeln). Dass hier eine direkte Verbindung zum Alten Testament gezogen wurde, als Gott Moses die zehn Gebote übergab, begriff jedes Kind.

 

Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, Gemälde von Jean-Jacques-François Le Barbier, ca. 1789

 

Die solcherart sakralisierte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte war allerdings noch keine Verfassung. Erst 1791 verabschiedete die Nationalversammlung eine vollgültigeconstitution und stellte ihr diedéclaration von 1789 voran. Damit war Frankreich zur konstitutionellen Monarchie geworden, zwei Jahre später folgte die Republik. Großen Wert legte die Konstituante darauf, den Text und seinen Inhalt im Volk bekannt und beliebt zu machen. Dazu dienten nicht zuletzt nationale Feste, die die Bürger »an die Verfassung, das Vaterland und die Gesetze« binden sollten. Inspiration bezog man aus den amerikanischen Bundesstaaten, wo schon 1788federal processions zu Ehren der Verfassung stattgefunden hatten. Manche Prozessionen führten eine Druckerpresse mit, die die Verfassung oder an sie gerichtete Oden vor Ort vervielfältigte; die Kopien wurden an die Zuschauenden verteilt.[4] Bei den französischen Festzügen stand das Verfassungsdokument ebenfalls im Mittelpunkt, und die Teilnehmenden legten gemeinsam und feierlich den Eid darauf ab. Religiöse Verweise gehörten, wie bei den Gesetzestafeln, zum Programm und woben einen Hauch von Heiligkeit in die neue säkulare Ordnung. Große Wirkung erzielte das 1793 in Paris veranstaltete Einheitsfest, das der Maler Jacques-Louis David als Mitglied des Nationalkonvents organisierte. Es endete mit dem ko