: Herfried Münkler
: Macht im Umbruch Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts | 'Das Buch zur Frage der Zeit.' Der Spiegel
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644021723
: 1
: CHF 24.00
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: Politik
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir alle spu?ren, dass Deutschland eine Macht im Umbruch ist, ein Land, das tiefgreifende Veränderungen erfährt. Was bedeutet der Wandel der Welt fu?r das Selbstverständnis Deutschlands, vor welchen Herausforderungen stehen wir, und was mu?ssen die Deutschen jetzt tun, um nicht abgehängt zu werden, sondern aktiv gestalten zu können, innen- wie außenpolitisch? Herfried Mu?nkler kreist die neuralgischen Punkte der deutschen Politik ein und entwirft hellsichtig eine Strategie fu?r das ku?nftige Agieren. Die Frage nach der neuen Rolle Deutschlands wird wesentlich davon abhängen, ob es dem größten Land in der Mitte Europas gelingt, seine ökonomische, politische und kulturelle Macht so einzusetzen, dass ein Auseinanderfallen Europas verhindert werden kann. Hierfu?r sind nicht nur grundlegende Reformen dringend nötig, Deutschland und die EU mu?ssen sich auch als widerstandsfähig gegen Russland, selbstbewusst im Umgang mit China und, falls es nötig werden sollte, als unabhängig von den USA erweisen. Eine tiefschu?rfende, richtungsweisende Analyse, die zeigt, wie Deutschlands Rolle neu gedacht werden kann und muss, wenn Europa sich im 21. Jahrhundert im Spiel der großen Mächte behaupten möchte.

 Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und eine unverzichtbare, prägende Stimme in den Debatten unserer Gegenwart. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa  «Imperien», «Die Deutschen und ihre Mythen», «Der Große Krieg» oder «Die neuen Deutschen» (mit Marina Münkler), allesamt Bestseller. Zuletzt erschienen «Welt in Aufruhr» und «Macht im Umbruch», die ebenfalls lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung, dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship, dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. 

Einleitung: Geopolitik, Verteidigung der Demokratie, deutsche Bedenklichkeit


Vor wenigen Jahren noch hätte man ein Buch über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt mitsamt den politischen Herausforderungen, denen sich die Deutschen stellen müssen, kaum mit einem Widerstreit der großen Mächte oder einem Umbruch der Macht in Verbindung gebracht. In einer vor zehn, zwanzig Jahren verfassten Darstellung hätte als Thema der Bedeutungsverlust von Grenzen und Grenzregimen dominiert, des Weiteren der ständig wachsende Austausch von Gütern und Wissen im globalen Rahmen, dazu die Vorbildfunktion von Schwellenländern bei der Überwindung von Armut und Rückständigkeit, und das alles wäre obendrein von der Vorstellung des Fortschritts als analytischer Leitidee durchtränkt gewesen. Wenn vom Auf und Ab der großen Mächte die Rede gewesen wäre, dann mit Blick auf die Vergangenheit.[1] Der Blick auf die Gegenwart und Zukunft der Mächte hätte jedoch unter der Annahme gestanden, dass deren politische Feindschaft inzwischen in wirtschaftliche Konkurrenz überführt worden sei, dass für ihre politische Position in der Welt Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie sehr viel wichtiger seien als die zahlenmäßige Größe ihrer Armeen und der Anteil des Wehretats am Bruttoinlandsprodukt. Wenn es denn überhaupt so etwas wie einen Widerstreit der großen Mächte gab, dann wurde er in den Laboren und Forschungsabteilungen der führenden Unternehmen ausgetragen, weswegen die Aufwendungen für Wissenschaft und Forschung für die Zukunftsaussichten einer Großmacht als sehr viel relevanter galten als die Investitionen in die Modernisierung der Waffensysteme. So war das vor nicht allzu langer Zeit.

Man muss sich das noch einmal in seiner ganzen Bandbreite vor Augen führen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich im Verlauf des zurückliegenden Jahrzehnts verändert hat und welche Folgen das für unseren Erwartungshorizont hat – und noch haben wird. Einige dieser Veränderungen waren disruptiv[2] und sind uns schlagartig als solche klar geworden, wie das etwa Ende Februar 2022 bei Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine der Fall war. Kurz danach war bereits von einer «Zeitenwende» die Rede, auch wenn zunächst an der Politik der deutschen Regierung nicht erkennbar war, dass sie sich bewusst war, was sie da erklärt hatte. Daneben gab und gibt es aber auch Entwicklungen, die sich langsam und unauffällig vollzogen haben und erst nach einiger Zeit als grundstürzende Veränderungen der politischen Konstellationen sichtbar wurden: Der quantitative Rückgang der Demokratien und die Vermehrung der autoritär-autokratischen Regime im Weltmaßstab[3] gehören ebenso dazu wie der allmähliche und anfangs nicht weiter thematisierte Anstieg der Migrationsbewegungen in Richtung Europa und Nordamerika, die im Jahr 2015 dann mit der europäischen Migrationskrise wie ein politischer Tsunami in die deutsche Gesellschaft einbrachen und seitdem den öffentlichen Diskurs beherrschen.

Die Beobachtung, dass die demokratischen Ordnungen weltweit in die Minderheit geraten sind und es selbst in der Europäischen Union nicht mehr selbstverständlich ist, dass es sich bei ihr um eine Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten handelt, weil einige der Mitgliedstaaten lieber «illiberale Demokratien» sein wollen als Wächter individueller Freiheitsrechte, hat die selbstzufriedene Sorglosigkeit, wonach die politische Zukunft liberal und demokratisch sein werde, in Zweifel gezogen; stattdessen steht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Liberalen und Demokratischen wieder auf der Agenda.[4] Das war in Deutschland schon einmal Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre der Fall. Die sich ausbreitende Vorstellung, wonach der Zustrom von Migranten die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der westlichen Gesellschaften auf Dauer überfordere, hat die Bedeutung von Grenzen und die Errichtung von Kontrollregimen an diesen Grenzen wieder ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt. An die Stelle des Strömens von Gütern und Kapitalien, Touristen und Globetrottern, deren Bewegungsfreiheit durch staatliche Grenzen unnötig behindert werde, wie die Modernisierungsagenda zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautete, trat die Wertschätzung von Grenzen als Schleusen und Abwehrlinien einer sonst unkontrollierbaren Migrationsbewegung.[5] Diese Umkehrung der politischen Prä