Vor wenigen Jahren noch hätte man ein Buch über die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt mitsamt den politischen Herausforderungen, denen sich die Deutschen stellen müssen, kaum mit einem Widerstreit der großen Mächte oder einem Umbruch der Macht in Verbindung gebracht. In einer vor zehn, zwanzig Jahren verfassten Darstellung hätte als Thema der Bedeutungsverlust von Grenzen und Grenzregimen dominiert, des Weiteren der ständig wachsende Austausch von Gütern und Wissen im globalen Rahmen, dazu die Vorbildfunktion von Schwellenländern bei der Überwindung von Armut und Rückständigkeit, und das alles wäre obendrein von der Vorstellung des Fortschritts als analytischer Leitidee durchtränkt gewesen. Wenn vom Auf und Ab der großen Mächte die Rede gewesen wäre, dann mit Blick auf die Vergangenheit.[1] Der Blick auf die Gegenwart und Zukunft der Mächte hätte jedoch unter der Annahme gestanden, dass deren politische Feindschaft inzwischen in wirtschaftliche Konkurrenz überführt worden sei, dass für ihre politische Position in der Welt Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie sehr viel wichtiger seien als die zahlenmäßige Größe ihrer Armeen und der Anteil des Wehretats am Bruttoinlandsprodukt. Wenn es denn überhaupt so etwas wie einen Widerstreit der großen Mächte gab, dann wurde er in den Laboren und Forschungsabteilungen der führenden Unternehmen ausgetragen, weswegen die Aufwendungen für Wissenschaft und Forschung für die Zukunftsaussichten einer Großmacht als sehr viel relevanter galten als die Investitionen in die Modernisierung der Waffensysteme. So war das vor nicht allzu langer Zeit.
Man muss sich das noch einmal in seiner ganzen Bandbreite vor Augen führen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich im Verlauf des zurückliegenden Jahrzehnts verändert hat und welche Folgen das für unseren Erwartungshorizont hat – und noch haben wird. Einige dieser Veränderungen waren disruptiv[2] und sind uns schlagartig als solche klar geworden, wie das etwa Ende Februar 2022 bei Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine der Fall war. Kurz danach war bereits von einer «Zeitenwende» die Rede, auch wenn zunächst an der Politik der deutschen Regierung nicht erkennbar war, dass sie sich bewusst war, was sie da erklärt hatte. Daneben gab und gibt es aber auch Entwicklungen, die sich langsam und unauffällig vollzogen haben und erst nach einiger Zeit als grundstürzende Veränderungen der politischen Konstellationen sichtbar wurden: Der quantitative Rückgang der Demokratien und die Vermehrung der autoritär-autokratischen Regime im Weltmaßstab[3] gehören ebenso dazu wie der allmähliche und anfangs nicht weiter thematisierte Anstieg der Migrationsbewegungen in Richtung Europa und Nordamerika, die im Jahr 2015 dann mit der europäischen Migrationskrise wie ein politischer Tsunami in die deutsche Gesellschaft einbrachen und seitdem den öffentlichen Diskurs beherrschen.
Die Beobachtung, dass die demokratischen Ordnungen weltweit in die Minderheit geraten sind und es selbst in der Europäischen Union nicht mehr selbstverständlich ist, dass es sich bei ihr um eine Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten handelt, weil einige der Mitgliedstaaten lieber «illiberale Demokratien» sein wollen als Wächter individueller Freiheitsrechte, hat die selbstzufriedene Sorglosigkeit, wonach die politische Zukunft liberal und demokratisch sein werde, in Zweifel gezogen; stattdessen steht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Liberalen und Demokratischen wieder auf der Agenda.[4] Das war in Deutschland schon einmal Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre der Fall. Die sich ausbreitende Vorstellung, wonach der Zustrom von Migranten die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der westlichen Gesellschaften auf Dauer überfordere, hat die Bedeutung von Grenzen und die Errichtung von Kontrollregimen an diesen Grenzen wieder ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt. An die Stelle des Strömens von Gütern und Kapitalien, Touristen und Globetrottern, deren Bewegungsfreiheit durch staatliche Grenzen unnötig behindert werde, wie die Modernisierungsagenda zu Beginn des 21. Jahrhunderts lautete, trat die Wertschätzung von Grenzen als Schleusen und Abwehrlinien einer sonst unkontrollierbaren Migrationsbewegung.[5] Diese Umkehrung der politischen Prä