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Gegenwart
NATALIE
Als ich heute Morgen ins Büro komme, ist Dawn nicht an ihrem Schreibtisch, was bedeutet, dass die Welt untergeht.
Ich mache Spaß. Offensichtlich geht die Welt nicht unter, aber wer Dawn kennt, versteht, was ich meine.
Dawn sitzt seit neun Monaten in der Bürozelle neben meiner bei Vixed, einer Firma für Nahrungsergänzungsmittel, für die wir beide arbeiten. Man könnte die Uhr nach ihren Gewohnheiten stellen. Um Viertel vor neun ist sie an ihrem Schreibtisch. Um Viertel nach zehn geht sie auf die Toilette. Viertel vor zwölf geht sie in den Aufenthaltsraum und isst ihren Lunch. Halb zwei geht sie wieder auf die Toilette. Und um Punkt fünf fährt sie ihren Computer herunter und macht Feierabend. Wenn aufgrund irgendeiner Katastrophe alle Uhren stillstehen würden, könnten wir alle wieder richtig in der Zeit liegen, indem wir beobachten, wann Dawn zur Toilette geht. Auf dieSekunde genau.
Ich komme für gewöhnlich irgendwann zwischen halb neun und neun zur Arbeit. Na ja,ungefähr neun. Wenn es gut läuft, schaffe ich 8:30. Aber obwohl ich schwören könnte, dass ich meine Schlüssel jeden Tag an genau denselben Platz lege, auf den Tisch direkt neben der Wohnungstür, scheinen sie sich manchmal in der Nacht selbstständig zu machen und woanders hinzugehen. Dann muss ich sie suchen.
Oder es ist viel Verkehr, und ich gerate in einen Stau. Während der Stoßzeiten geht in der Dorchester Avenue nichts mehr.
Heute Morgen hatte ich zwar keine grüne Welle, aber es war wenig Verkehr, sodass ich um zehn vor neun das Großraumbüro betrete, in dem Vixed untergebracht ist. Ich gehe die Reihe identischer Bürozellen in der Mitte des Raumes entlang, wobei meine roten Absätze auf dem Linoleumfußboden klacken und die Leuchtstofflampen über meinem Kopf flackern. Als ich auf dem Weg zu meinem Platz an Dawns vorbeigehe, die Hand schon zum Gruß erhoben, stutze ich.
Ihr Platz ist leer.
So seltsam Dawns Tagesablauf ist, noch seltsamer ist es, dass sie heute davon abweicht. Ich kann nicht umhin zu denken, dass Dawns Abwesenheit nichts Gutes bedeutet. Schließlich kommt Dawn nie zu spät.Nie.
»Natalie! Hey, Nat! Stell dir vor!«
Beim Klang von Kims Stimme reiße ich den Blick von Dawns Arbeitsplatz los. Sie hüpft die Reihe Bürozellen entlang, ihr braun gebranntes Gesicht glüht.
Kim Haley ist meine beste Freundin in der Firma, was leider bedeutet, dass sie meine beste Freundin überhaupt ist, da die Arbeit immer mehr mein ganzes Leben bestimmt. Vor zwei Wochen ist sie mit der schönsten Bräune und hellen Strähnen in ihren sonst dunkelbraunen Haaren aus den Flitterwochen zurückgekehrt – sie riecht sogar noch nach Sonne und Sand. Sie sieht toll aus. Ich freue mich für sie und bin nur zu ungefähr zehn Prozent eifersüchtig. Wirklich – ich wünsche ihr alles Glück der Welt.
Mein Blick wandert über Kims schwarz-weiß gemustertes Ann-Taylor-Kleid, und ich bemerke einen verräterischen Bauch. »Du bist schwanger!«, stoße ich hervor.
Sofort verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Nein. Ich bin nicht schwanger. Warum sagst du das?« Sie zupft an dem Band über ihrer Taille. »Findest du, in diesem Kleid sehe ich dick aus?«
»Nein! Natürlich nicht, Kim!« Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass die Art, wie sieStell dir vor sagte, so kl