Kapitel 1
Tally betrat ihre Wohnung, zog den Mantel aus und beschloss, ein Vollbad zu nehmen. Sie war durchgefroren, im Büro hatte die Heizung nicht richtig funktioniert, und es war schwierig, sich auf ihre Fälle zu konzentrieren, wenn man bibberte und sich unwohl fühlte.
Ihr Handy klingelte – o nein, das konnte nichts Gutes heißen. Einen Moment lang war sie versucht, das Läuten zu ignorieren. Seufzend fischte sie das Handy aus ihrer Manteltasche, erhaschte einen Blick auf das Display und nahm den Anruf an. »Was gibt es?«
»Hoffentlich hast du es dir noch nicht bequem gemacht«, sagte ihre Chefin.
»Weißt du, was da draußen los ist? Der plötzliche Kälteeinbruch veranlasst die Menschen offenbar zu Hamstereinkäufen. Die Stadt ist dicht, ich bin nur im Stop-and-go vorwärtsgekommen und habe soeben meine Wohnung betreten.«
»Dann wird es dich sicher freuen, dass du die nächste Zeit nicht in einer von Autoabgasen verpesteten Stadt verbringen musst.«
»Sehr witzig. Kannst du niemand anderen schicken?«
»Nein. Der Fall ist heikel.«
»Das ist er doch immer«, warf Tally ein.
»Wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du die richtige Person dafür wärst, würde ich dich nach dem heutigen Tag nicht mehr belästigen.«
Tally fühlte sich geschmeichelt, kam aber dennoch nicht umhin, ihrer Chefin zu unterstellen, dass sie mit voller Absicht so argumentierte. Sei es drum. Sie ließ ihren Blick bereits umherschweifen und versuchte, zu erfassen, ob sie ihre vier Wände so hinterlassen konnte. Es lag auf der Hand, warum sie sich keine Zimmerpflanzen hielt.
»Gib mir ein paar Fakten«, bat sie ihre Chefin und betätigte die Freisprechanlage. Mit dem Handy in der Hand lief sie ins Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Dort stand stets eine gepackte Reisetasche griffbereit.
»Wann bist du so weit?«
»Wenn ich mich erneut durch den Straßenverkehr gekämpft habe«, antwortete Tally.
»Braves Mädchen. Ich wusste, auf dich ist Verlass.«
»Wie sieht es mit einer Gehaltserhöhung aus?«
»Tally, die Verbindung ist plötzlich ganz schlecht. Ich erwarte dich spätestens in einer Dreiviertelstunde hier.«
Typisch. »Nein. Wenn der Fall so heikel ist, wie du angedeutet hast, dann sag ihr einen Treffpunkt, und von dort hole ich sie ab. Alles Weitere per Mail. Ich melde mich morgen wieder.«
»Gut. Ich schick sie mit dem Taxi zum Flughafen. Sobald sie unterwegs sind, sende ich dir eine SMS mit der Nummer des Taxis. Viel Glück.«
Das brauchte sie auch, wenn sie nicht noch heute erfrieren wollte. Von allem anderen mal abgesehen. Tally war routiniert in ihren Einsätzen, aber nie zuvor hatte sie sich bei Antritt so mies gefühlt. War da etwa eine Erkältung im Anmarsch? Bloß das nicht.
Rasch packte sie eine zweite Tasche mit vielen warmen Sachen zusammen, schlüpfte wieder in ihren Mantel, zog die Wohnungstür hinter sich zu und schloss sorgfältig ab. Ihre Absätze klapperten über die Treppenstufen. Sie hätte wenigstens in bequemere, aber vor allem wärmere Schuhe schlüpfen sollen und war versucht, noch einmal zurückzulaufen, doch ein Blick auf ihre Armbanduhr mahnte zur Eile.
Dank der SMS fand sie auf Anhieb das richtige Taxi und klingelte ihre Chefin an. Tally wusste, dass sie der Klientin per Handy mitteilte, dass Taxi jetzt zu verlassen und das Gebäude des Flughafens zu betreten.
Sie stieg ebenfalls aus dem Wagen und ging der Frau nach. In der Halle war es voll, an einigen Schaltern standen die Menschen Schlange, wurden aber flott bedient.
Tally nutzte die Gelegenheit und nahm ihre Klientin genauer in Augenschein. Schlagartig war ihr klar, was ihre Chefin mitheikel meinte. Die Frau fiel auf. Sie schwebte förmlich über den Boden, bewegte sich anmutig, war groß und bildschön. Verdammt. Außerdem sah sie ängstlich um sich, ihr Blick hetzte herum und zu allem Überfluss führte sie ein kleines Kind an der Hand.
Tally unterdrückte einen Seufzer. Niemand hatte sie gezwungen, einen solchen Job zu übernehmen. Nun musste sie da durch. In der Regel hatte sie für ihre Einsätze vier Orte zur Verfügung. Instinktiv entschied sie sich für den dieses Mal einzig infrage kommenden: St. Elwine.
Immerhin würde sich ihre Mutter freuen. Und es gab in deren Haus warme Socken. Die hatte Tally im Eifer des Gefechts nämlich vergessen.
Am besten, sie erlöste die Frau, die sich vollkommen verängstigt umsah und immer wieder zusammenzuckte. »Huhu«, rief sie wie ausgemacht und tat, als träfe sie eine liebe Bekannte zufällig wieder.
Die junge Frau riss den Kopf herum und starrte sie an. Tally beeilte sich, herzlicher zu lächeln, und endlich schien ihre Kli