Kindheit in Kaunas, Tage der Unschuld
Ich wurde hineingeboren in eine Welt voll Optimismus und Hoffnung. Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, einer Zeit voll Grausamkeit, Tod und Zerstörung, glaubten die Menschen fest daran, dies wäre der letzte Krieg gewesen. Litauen, dieser kleine baltische Staat, erlangte nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch polnische und russische Herrschaft endlich seine Unabhängigkeit.
Zum ersten Mal erhielten Juden die vollen Bürgerrechte und Präsident Antanas Smetona1 führte Gesetze ein, welche jeden offen zutage tretenden Antisemitismus verboten. Litauens Juden glaubten, nun hätte eine Ära des Friedens und der Sicherheit begonnen. Merkten sie tatsächlich nichts von der noch schwelenden Glut unter der oberflächlichen Stille? Begriffen sie wirklich nicht, dass viele Litauer niemals aufgehört hatten, ihre jüdischen Nachbarn zu hassen?
Ich wurde in Kaunas geboren, wo ein Drittel der Bevölkerung einmal aus Juden bestanden hat. Es war und ist immer noch eine schöne Stadt. Die Straßen sind meist schmal, die Häuser haben höchstens zwei oder drei Stockwerke. »Lasves Aleja«, die Lasves-Allee, ist ein wunderschöner, von Bäumen gesäumter Boulevard, der sich mit seinen Cafés und Geschäften einmal quer durch die Stadt zieht. Die Flüsse Neris und Vilija trennen die flacheren Ebenen der Stadt von den Aleksotas-Hügeln und den »Grünen Bergen«, auf denen einige stattliche Stadthäuser thronen.
Am Tag meiner Geburt, Ende März, war die Stadt ganz in Weiß getaucht, tief in Schnee gehüllt, in dem man versinken konnte, und ein eiskalter Wind wehte vom Fluss herüber, der nicht weit von unserem Haus entfernt war. Doch Mutter sagte immer, der Duft des Frühlings, der schon hinter der Ecke wartete, sei bereits in der Luft.
Bikkur Holim2 – das bedeutet »Krankenbesuch« – war ein jüdisches Privatkrankenhaus, das über ein schönes und nagelneues Gebäude verfügte. Die Ärzte und Krankenschwestern versorgten das Neugeborene, das respektable viereinhalb Kilo auf die Waage brachte und bereits den Kopf voll prächtiger schwarzer Haare hatte. Meine Eltern gaben mir einen hebräischen Namen, was in jener Zeit ungewöhnlich war: Uri. Üblicherweise entschied man sich für den Namen eines verstorbenen Verwandten. Mein Name wurde von den nächsten Angehörigen sofort gedehnt zu Uri