: Steffen Augsberg
: Verfassungspatriotismus Konzept, Kritik, künftige Relevanz
: CEP Europäische Verlagsanstalt
: 9783863936570
: 1
: CHF 11.70
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 284
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ausgehend von zentralen Primärtexten der beiden begriffsprägenden Protagonisten Dolf Sternberger und Jürgen Habermas werden unterschiedliche Perspektiven eröffnet, um die Frage zu beantworten, ob und inwieweit sich Verfassungen im Allgemeinen und das Grundgesetz im Besonderen eignen, in zunehmend pluralen und fragmentierten Gesellschaften einen übergreifend sinnstiftenden Zusammenhalt zu gewähren. Am 23. Mai 2024 wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt. Damit hat sich dieses bewusst als Provisorium konzipierte Verfassungsdokument als erstaunlich langlebig und erfolgreich erwiesen. Dass es sich in der Praxis bewährt hat, dürfte außer Frage stehen. Natürlich gab und gibt es (berechtigte) Kritik; sie ist Bestandteil dessen, was das Grundgesetz selbst als demokratisch-diskursiven Austausch voraussetzt und einfordert. Dessen ungeachtet hat das im Grundgesetztext positivrechtlich verfestigte normative Fundament unserer Gesellschaft dazu beigetragen, das Nachkriegs(west)deutschland in den Westen zu integrieren sowie dem europäischen Integrationsprozess und der deutschen Wiedervereinigung einen akzeptanzfördernden rechtlichen Rahmen zu geben. Als weitgehend konsentierte normative Mitte trug und trägt es uns durch vergangene wie aktuelle Krisen. Gleichwohl ist zu fragen, inwieweit die soziale und politische Orientierungskraft des Verfassungsgefüges dessen praktische Wirksamkeit übersteigt. Eine solche identitätstiftende Funktion lässt sich mit dem Schlagwort des 'Verfassungspatriotismus' umschreiben. Dessen Ursprüngen, ambivalenten Bedeutungszuschreibungen und Weiterentwicklungen spüren die in diesem Band versammelten Texte nach.

Steffen Augsberg, geb. 1976, studierte Rechtswissenschaft an der Universität Trier und der LMU München. Nach der Promotion in Heidelberg erfolgte die Habilitation an der Universität zu Köln. 2011 übernahm er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Recht des Gesundheitswesens, an der Universität des Saarlandes, 2013 wechselte er auf eine Professur für Öffentliches Recht an der JLU Gießen. Seit 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrates. 2022 erschien in der Europäischen Verlagsanstalt mit einer Einleitung von Steffen Augsberg Dolf Sternbergers Lebende Verfassung.

Verfassungspatriotismus
bei Dolf Sternberger und Jürgen Habermas


Verfassungspatriotismus als traditionale
Bürgertugend bei Dolf Sternberger


Dolf Sternberger
Verfassungspatriotismus


Es herrschte kaum Begeisterung vor dreißig Jahren, als der Parlamentarische Rat die Arbeit abschloß. Was die Bevölkerung angeht, so erfuhr sie nicht allzuviel davon, wurde auch nicht aufgerufen, ihr Votum abzugeben. Die Mitglieder dieser verfassunggebenden Versammlung ihrerseits taten ihr Werk eher in einer gedrückten Seelenlage. Es war nur ein Teil der Nation, für den sie handeln konnten. So meinten viele von ihnen, auch dem Staat, den sie widerstrebend schufen, einen bloß vorläufigen oder bloß interimistischen Charakter aufprägen zu sollen. Der klanglose Name »Grundgesetz« zeugt von solcher Zurückhaltung. Man sprach gleichsam mit gedämpfter Stimme, arbeitete mit zögernden Händen – in der Trauer um die Zertrennung der Nation, in der zagen Hoffnung auf einen künftigen freien Akt des ganzen Deutschlands.

Noch immer trauern wir, noch immer hoffen wir. Doch ist den nationalen Gefühlen seither ein helles Bewußtsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes zugewachsen. Die Verfassung ist aus der Verschattung hervorgekommen, worin sie entstanden war. In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet. Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.

Alle spüren es, die meisten wissen es, einige freilich wollen es partout nicht wahrhaben, daß hier die Luft der Freiheit weht. Man muß nur begreifen, daß es keine Freiheit geben kann ohne Staat. Und keine Menschenrechte außerhalb des Staates, der sie nämlich in Bürgerechte verwandelt. Und keinen Staat ohne Behörden. Überhaupt sollen wir uns nicht scheuen, das Wort »Staat« zu gebrauchen. Das Wort »Demokratie« kann kein Ersatz dafür sein, es führt eine Träumerei mit sich, als ob es eigentlich auch ohne Regierung ginge, wenn man das Volk nur machen ließe. Darum ist es besser, sich vor Augen zu halten, daß es in unserem Verfassungsstaat nicht das »Volk« ist, das »sich selbst« regiert, daß es darin vielmehr Regierende und Regierte gibt, eine Minderheit von Regierenden und eine Mehrheit von Regierten. Das ist unaufhebbar. Aber diese Regierten sind zugleich die Wähler, und diese Regierenden sind die Gewählten; die Regierenden hängen in gewisser Weise und in gewissem Maße von den Regierten ab. In jenen sonderbaren Vereinen, die politische Parteien heißen, sind Regierende und Regierte, Bewerber und ihre Anhänger miteinander organisatorisch verbunden. Die Parteien sitzen in den Parlamenten, bilden kooperierende und konkurrierende Mannschaften, treten in aller Regel in wechselseitiger Kritik auseinander, in einen regierenden und einen opponierenden Teil. Wir