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München, Mai 2015
Heute würden ihr die Dampfnudeln gelingen. Katharina Raith hatte die Arbeit an der lädierten Biedermeierkommode schon vor einer Weile unterbrochen, gründlich ihre Hände gewaschen und sich dann von der Werkstatt zum Kochen in den ersten Stock zurückgezogen. Im dritten und kleinsten Zimmer ihrer neuen Wohnung stand der letzte halb ausgepackte Karton, und einige Wände warteten noch immer auf die richtigen Bilder. In der geräumigen Küche jedoch war bereits alles so, wie es sein sollte: An der Stirnseite prangte die Kredenz aus den Zwanzigerjahren, frisch lackiert in leuchtendem Zitronengelb. Gegenüber befand sich der Herd mit ultramoderner Abzugshaube, links flankiert von einer Arbeitsplatte aus Granit, in die ein längliches Feld aus Zwetschgenholz eingelassen war, auf dem sich ganz nach Wunsch kneten und schneiden ließ. Mittelpunkt aber war der längliche Tisch, der ursprünglich aus einem sardischen Bauernhaus stammte und von Katharina so gekonnt restauriert worden war, dass die Beine nicht mehr wackelten und die schwere Platte aus Olivenholz wie geölt wirkte. Er war ihr Lieblingsmöbel. In ihren nunmehr vier Berufsjahren als Restauratorin, die auf die Meisterschule für das Schreinerhandwerk gefolgt waren, hatte sie schon einige alte Schätze aufgearbeitet, aber keiner davon lag ihr so sehr am Herzen wie dieser Bauerntisch, an dem sie jeden Morgen ihren Kaffee trank.
Die schwarze Kladde, die aufgeschlagen darauf lag, trug ihre alten Fettflecken würdevoll, wenngleich sie mittlerweile vom häufigen Umblättern brüchig geworden war. Eine Handschrift prägte die zerlesenen, teilweise eingerissenen Seiten, die schon durch viele Hände gegangen waren – die steilen, fast überkorrekten Schriftzüge ihrer Urgroßmutter Franziska Raith, genannt Fanny, die hier ihre wichtigsten Rezepte niedergeschrieben hatte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, bis Paula, Fannys jüngste und einzige noch lebende Tochter bereit gewesen war, diesen Schatz an ihre Großnichte abzutreten, die ebenso gern kochte wie die Ahnin. Inzwischen waren beide gleichermaßen glücklich über diese Entscheidung.
Obwohl Fanny schon zu Beginn der Achtzigerjahre gestorben war, war die Erinnerung an sie in der Familie bis heute lebendig geblieben. Ihre Lebensweisheiten wurden gern zitiert, ihre Kochkunst gelobt. Jeder, der sie noch persönlich gekannt hatte, sprach mit liebevollem Respekt von ihr. Wenn man den Raith-Frauen ein ganz besonderes Kompliment machen wollte, dann sagte man, sie sähen ihr ähnlich. Bei Katharina traf dies in besonderem Maße zu. Sie hatte Fannys weit auseinanderstehende Augen geerbt, die je nach Stimmung und Lichteinfall zwischen Grün und Grau changieren konnten, ihre aschblonden Haare, die sie seit ein paar Wochen kinnlang trug, sowie die kurze, gerade Nase. Auch im Körperbau gab es einige Gemeinsamkeiten wie die schön geformten Schultern, die schlanken Beine und die ebenso schmalen wie äußerst empfindlichen Füße, die rasch mit Blasen gegen unbequemes Schuhwerk protestieren konnten. Nur in der Größe unterschieden sie sich, denn die Urenkelin hätte Fanny um nahezu einen Kopf überragt.
Katharina zog das karierte Küchentuch von der Schüssel und nahm den Teig heraus. Er war prächtig gegangen und zerfiel nicht in kleine Brösel wie bei früheren Versuchen, sondern bildete eine goldene Masse, die glatt und geschmeidig in der Hand lag. Vielleicht hatte sie den Hefeteig ja dieses Mal end