Kapitel 2 – Die Mitmenschen
Zwanzig Jahre später. Mit zittriger Hand versucht er das Fahrrad an den nassen, kalten Fahrradständer zu ketten. „Tremor“, denkt er, „immer dieser Tremor ...“ Das leidige Zittern. Andere Menschen nehmen Kokain, Speed oder MDMA, um diese unwillkürliche und oszillatorische Bewegung der Hände zu spüren. Für ihn reichen drei Biere und vier Shots und das große Zittern startet. Im Grunde startet sein Zittern nach dem ersten Bier. Er fühlt nie eine Steigerung im Suff. Er trinkt etwas und ist sofort oben auf der Welle. Jedes weitere Getränk hält diesen Status. Nicht mehr, nicht weniger.
Während er seine bebende Hand beobachtet, wie diese verzweifelt versucht, den Schlossstift in die Schlossmutter zu schieben, bedauert er sich und seine Gestalt am folgenden Tag. Er weiß, dass die Nacht kurz und schlecht wird. Anschließend die entsetzten Blicke der Frau und die lauten Stimmen der Kinder beim Frühstück. Bereits in der Bahn wird man sich angewidert abwenden, sobald man ihn sieht beziehungsweise riecht. Im Büro werden seine Kollegen mit ihrem Alkoholkonsum der letzten Nacht prahlen, während ihm, stetig heiß und kalt zugleich, jegliche Konzentrationsfähigkeit fehlt. Er beneidet die Männer, die bei Betriebsausflügen und privat bis spät in die Nacht Biere „zischen“ und Shots unter großem Gegröle „kippen“, um 5:00 Uhr ins Bett fallen und um 7:30 Uhr am Frühstückstisch einer namenlosen Hotelkette sitzen, sich aufgeregt unterhalten und Konvenienzrührei inhalieren. Dabei sitzen die frisch gegelten Haare (2006 Style, Robbie Williams, David Beckham, etc.), man(n) trägt karierte Kurzarmhemden, tut sich mit dem Englischen schwer und wählt AfD (heimlich). Zu den Kollegen fällt häufiger der Satz, dass es ja „so wie es ist, nicht weitergehen könne“. Aber es wird und wurde ja immer gut. Bisher zumindest.
Er schiebt die klebrige Tür der Fast-Food Klitsche mit der Schulter auf. Egal, wie stark er auch angetrunken ist, so sicher ist er, dass er niemals die metallenen Griffe der Tür anfassen wird. Neurotiker bleiben Neurotiker. Wenn sie saufen, sind sie betrunkene Neurotiker. „Gut so“, denkt er sich. Man wird ja nicht gleich seine Würde verlieren und von den goldenen Prinzipien Abstand nehmen, nur weil man zu viel trinkt. Würde und Trinken korrelieren ja schließlich nicht oder sind sie nicht kausal?! Oder ist das andersherum? Wer weiß. Was eine bescheidene Fragestellung. Wäre man jetzt klar im Kopf, würde man sich diese Frage stellen und mit ein wenig Recherche beantworten können. Alles ist möglich. Nüchtern. Wenn man das wollte und nicht immer angesoffen und betrunken wäre, könnte man nüchtern und ausgeschlafen die größten Fragen beantworten oder philosophisch mit anderen gebildeten Menschen mitdiskutieren: Der Sinn des Lebens oder wann jetzt ist. Alles kein Thema. Aber ausgeschlafen muss man dafür sein. Das spielt jetzt aber keine Rolle, denn jetzt braucht er Salz, Fett und Kalorien. Ansonsten wird der morgige Tag nicht der Limbus, sondern die Hölle selbst.
Der Innenraum der seelenlosen Fresskette beherbergt ca. 20 bis 30 Personen. Er sieht nach rechts und nach links, doch vergisst sofort, wer mit wem, wo sitzt. Alles nur blabernde Menschenmasse. Nicht weiter beachten, sofort nach vorne. Ran an das fettige Essen, welches den abartigen Säufertrieb nach Junkfood nur stillen kann. Die Filiale hatte bereits ein „Renewal“ erhalten. Die Tische, an denen aufwendige Vorrichtungen angebracht waren, woran man sich unzählige Strohhalme und Servietten nehmen konnte, sind weg. Für die kleinen Assipisser der achten Klasse muss das ein riesiger Verlust sein, aber ihm ist es herzlich egal. Er greift an den neuen und futuristisch anmutenden Bestellautomaten. Ein großer Touchscreen, mit hunderten Burgern und Snacks, die zur Auswahl stehen. Er weiß, was er will. Wie immer. Burger + Pommes + Mayo + Limo. Loser Menu. Der Säufertraum à la carte. Langsam und behutsam drückt er auf den riesigen Touchscreen. Es tut sich nichts.