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Dort, wo Dossiers über Albanien geführt wurden, herrschte helle Aufregung, und auch wenn sie es niemals zuzugeben gewagt hätten, so wünschten sich die meisten Beschäftigten doch von ganzem Herzen, das Beben möge so schnell wie möglich vorübergehen, damit der aufgewirbelte Staub sich wieder zwei Finger dick auf den Aktenbündeln im Archiv absetzen konnte.
Vorläufig war damit aber nicht zu rechnen. Die Ordner wurden immer umfänglicher. Die Daten und Fakten, die sich darin ansammelten, waren so unübersehbar widersprüchlich, ja chaotisch, daß selbst die Hartgesottensten schließlich aufgaben, hilflos die Arme ausbreiteten und seufzend den Kollegen recht gaben, die sie am Vortag hatten sagen hören: Wer verstehen will, was sich in einem paranoiden Land abspielt, muß wahrscheinlich selbst an Paranoia leiden!
Ihre Vorgesetzten waren offensichtlich anderer Meinung. Jedesmal, wenn sie auf die betreffende Bemerkung stießen, kritzelten sie ein nervöses Fragezeichen daneben. Gleiches galt auch für Formulierungen wie »der alltägliche Wahnsinn auf dem Balkan«, »lauter Hirngespinste« oder »typische, auf Jodmangel zurückzuführende, also organisch bedingte Psychose«. Überall und immer waren Herrscher von Mißgunst ihren Nachfolgern gegenüber erfüllt gewesen, und oft hatten sie diese dann auch ermorden lassen, so daß hier auf keinen Fall der Schlüssel zur Erklärung der balkanischen Verwirrung gesucht werden durfte. Die Erfassung seltsamer Bräuche im albanischen Hochland, wo zum Beispiel Schönheitswettbewerbe für Männer durchgeführt wurden, nicht selten mit dem Ergebnis, daß der Sieger von seinen neidischen Konkurrenten umgebracht wurde, war vielleicht nützlich, wenn man an Stoff für literarische Bemühungen interessiert war, ein politisches Urteil ließ sich daraus aber nicht ableiten. Sonst hätte man nämlich auch akzeptieren müssen, daß die Triebkraft der von Aufruhr geprägten balkanischen Geschichte im 20. Jahrhundert etwas gewesen war, das sich am besten mit dem berühmten Satz aus »Schneewittchen und die sieben Zwerge« ausdrücken ließ: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die (der) Schönste im ganzen Land?«
Erschöpft kehrten die politischen Analysten zu ihren ursprünglichen Denkansätzen zurück, die nicht weiterentwickelt worden waren, weil die Frage sie abgele