KAPITEL ZWEI
Tumult
Ich war bestens gelaunt und überlegte, zur Feier des Tages in einem Gasthaus im Ort zu Abend zu essen. Doch angesichts meiner bescheidenen finanziellen Verhältnisse und der Tatsache, dass das Abendessen im Preis des Logis bei Frau Bryl inkludiert war, konnte ich mich nicht zu dieser Extravaganz durchringen. Ich aß also stattdessen auf der Veranda der Pension mit Blick nach Westen auf einen Himmel, in dem das Blau mit sinkender Sonne kräftiger zu leuchten begann. Pünktlich um sechs hatte meine Wirtin aufgetragen. Sie hatte zur Feier der erfolgreich angebahnten Begegnung mit Thomas Mann Zeppeline zubereitet. Die mit würzigem Fleisch gefüllten Kartoffelklöße lagen wie knusprige Luftschiffe in einer kräftigen Soße aus in Butter ausgelassenem Speck mit Smetana. Für jede Litauerin und jeden Litauer müssen Cepelinai stets genauso schmecken wie in ihrer Kindheit. Als Mutter am Sonntagvormittag mit der Zubereitung beschäftigt gewesen war und alle bei Tisch nur darauf warteten, dass sie mit von der Herdhitze erröteten Wangen, die Schüssel in der Hand, aus der Küche trat. Nichts vermag so zuverlässig unsere sentimentale Seite zum Vorschein zu bringen wie der Gedanke an die Lieblingsspeise. Ich fand jedenfalls an diesem Abend, dass Frau Bryls Cepelinai dem Geschmackmeiner Kindheit schon sehr nahekamen.
Meine Ausgabe derBuddenbrooks, die Kladde mit den Übersetzungsnotizen und den Montblanc aus dem Besitz meines Vaters hatte ich neben den Teller gelegt und blätterte im Buch nach der Stelle, die ich zuletzt geprüft hatte. Selbstverständlich hatte ich nicht vor, zu essen und wie nebenbei an der anspruchsvollen Übersetzung zu arbeiten. Dies war eine Vorarbeit, eine mir im höchsten Maße angenehme spielerische Annäherung an die Stolpersteine eines Textes, die ich mir zur Angewohnheit gemacht hatte. Ich las, blieb an Worten hängen, für die ich Entsprechungen suchte, spielte damit herum, fand und untersuchte Varianten, sagte mir die Worte laut vor und schrieb mir dasjenige, das mir am besten gefiel, mit einem Vermerk in die Kladde. Doch das Spiel machte mir nicht so viel Freude wie sonst, denn ich war durch die Ereignisse am Strand und durch die frischen Bilder in meinem Kopf abgelenkt. Die Bilder der geschriebenen Seiten, die ich für Thomas Mann gerettet hatte. Drei Blätter, bedeckt mit seiner disziplinierten Handschrift, steil, eng, mit gleichmäßig nach rechts geneigten Unterlängen und Buchstaben, die ein Muster von Häkchen bildeten. Ich konnte das Geschriebene nicht ohne Weiteres lesen, ich musste es mit Zeit und Muße entziffern.
Doch eigentlich verbot mir das der Anstand. Denn der Inhalt der Blätter war selbstredend privat. Man liest ja auch nicht anderer Leute Briefe, nur weil die Gelegenheit günstig ist. Überdies hatte ich dem großen Dichter versichert, den Inhalt nicht zu kennen.
Ich hoffe, Sie nehmen mir ab, dass ich keinesfalls glaube, Einfluss auf die Geschichte genommen zu haben. Obwohl wir alle durch unsere Handlungen und Entscheidungen, durch die schiere Tatsache unseres Daseins dem Lauf der Dinge kaum wahrnehmbare Schubser in die eine oder andere Richtung geben. Wohlgemerkt hätte nicht Thomas Manns Leben eine andere Wendung genommen, wenn ich mich damals anders entschieden und die Blätter ignoriert hätte, meines hingegen schon.
Wie kann man etwas, das man im Kopf hat, wieder wegdenken? Vielleicht, indem man es aus dem Kopf herausholt, aufschreibt, weglegt und dann vergessen kann. Ich weiß, dass ich mir den Vertrauensbruch schönrede. Und doch glaubte ich, dem Dichter womöglich sogar einen Dienst zu erweisen, hatte ich doch gerade miterlebt, wie fahrlässig er mit seinen Notizen umging, wie leicht ihm der Wind Gedanken aus der Hand reißen konnte. Ich würde also sein Archivar sein, schlug eine neue Seite in meiner Kladde auf, zog mir die Gedankendecke über den Kopf und begann, das Schriftbild sorgfältig bis ins Detail aus meinem Gedächtnis zu faksimilieren, während ich nebenbei die Zeppeline aß. Ich tat es ohne Eile und ohne inhaltliches Verständnis. Entschlüsseln würde ich das Aufgeschriebene später.
Ich hatte gerade die letzte Zeile rekonstruiert und den letzten Bissen heruntergeschluckt, als ich hinter mir eine Stimme vernahm: »Haben Sie bereits mit der Übersetzung derBuddenbrooks begonnen?«
Ich schrak dermaßen zusammen, dass meine Hand, die auf der Kladdenseite gelegen hatte, sich verkrampfte und das Papier darunter zerknitterte.
»Frau Bryl, warum müssen Sie mich immerzu erschrecken?« Wie lange hatte sie mir schon über die Schulter geschaut?
»Herr Miuleris, warum sind Sie auch so furchtbar schreckhaft?« Sie räumte den Teller ab. »Haben Ihnen dieCepelinai geschmeckt?«
»Hervorragend«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Erstaunlich, dass Sie sich überhaupt an Ihre Mahlzeit erinnern können, wo Sie doch die ganze Zeit die Nase nicht in den Teller, sondern in Ihre Arbeit gesteckt haben.«
»Beobachten Sie mich etwa?«
Mein Misstrauen gegenüber Frau Bryl mag Ihnen übe