: Ismail Kadare
: Der General der toten Armee Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104920863
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 296
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit Karten, Listen und eisernem Gerät rückt ein italienischer General der albanischen Erde auf den Leib. Sie soll die toten Soldaten wieder freigeben, die im ehemaligen Feindesland gefallen sind. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubt der General noch immer an die Soldatenehre. Die unwegsame Reise führt ihn und seinen Begleiter, den Priester, durch Berglandschaften, Städte und Träume.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

ERSTER TEIL


ERSTES KAPITEL


Schneeflocken mischten sich in den Regen, der auf die fremde Erde niederging. Die betonierte Landebahn, das Flughafengebäude, die Wachsoldaten, alles war naß. Der Schneeregen durchweichte das flache Stück Land und die Hügel und brachte den schwarzen Asphalt der Autostraße zum Glänzen. Wäre nicht Herbstanfang gewesen, der General hätte den eintönigen Regen, der bei seiner Ankunft fiel, als böses Vorzeichen begriffen. Er kam aus einem fremden Staat nach Albanien, um die sterblichen Überreste der im letzten Weltkrieg gefallenen Soldaten heimzuholen. Die Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen hatten im Frühjahr begonnen, doch erst Ende August, als das Wetter bereits schlechter wurde, war die Abschlußvereinbarung unterzeichnet worden. Inzwischen hatte mit dem Herbst die Regenzeit begonnen, wie der General wußte, der sich vor seiner Abreise unter anderem auch über das Klima in Albanien kundig gemacht und dabei erfahren hatte, daß die Herbste in Albanien naß und regnerisch waren. Doch selbst wenn in seinem Reiseführer gestanden hätte, in Albanien sei es im Herbst trocken, wäre der Regen keine Überraschung für ihn gewesen, im Gegenteil. Seine Mission, so wie er sie sich vorstellte, setzte Regen geradezu voraus.

Lange hatte er während des Fluges durch das Fenster auf die bedrohlich wirkende Bergwelt hinuntergeschaut. Die schroffen Spitzen schienen jeden Augenblick den Bauch der Maschine aufschlitzen zu wollen. Schräge Flächen allerorts. Unten huschten im Nebel düstere Plateaus vorbei. In den Schluchten und auf den Hängen, überall in diesem bereits winterlich sich darbietenden Hochland ruhte modernd die Armee, die zu exhumieren er gekommen war. Nun, da er das fremde Land zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, nahm die unbestimmte Furcht, die ihn seit Monaten plagte, konkretere Gestalt an, weil er ahnte, daß er sich auf ein aussichtsloses Unterfangen eingelassen hatte. Dort unten war sie, diese Armee, außerhalb der Zeit, gefroren, kalzifiziert, von Erde bedeckt, und ihm war die Aufgabe zugefallen, sie aus dem Lehm hervorzuholen. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Dieser Auftrag war gegen die Natur, er würde es mit einem gerüttelt Maß an