: Ismail Kadare
: Der Schandkasten Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104921266
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im riesigen osmanischen Reich ist Albanien nur der kleinste Zipfel. Doch seine Einwohner gelten als rebellisch und widerspenstig. Wie Ali Pascha, ihr Anführer, genannt der Unselige. Wird auch er mit seinem Leben dafür bezahlen müssen? Denn wer sich dem Willen des Sultans widersetzt, dessen Kopf wird in der Hauptstadt des Reiches im ?Schandkasten? ausgestellt. Ismail Kadares nachtschwarze, zutiefst unheimliche Parabel erzählt in wortgewaltigen Bildern vom Schicksal Albaniens unter der Fremdherrschaft der Osmanen.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

Kapitel 1Im Zentrum des Reiches


Immer wieder begegneten seine Augen den Blicken der Passanten und Touristen, die von allen Seiten auf den Platz strömten. So wie alle Massen in Bewegung, hatten auch die Touristenscharen leichte und flüchtige Blicke, doch diese erstarrten schon beim ersten Kontakt. Zuerst schienen sich die überrumpelten Pupillen tief in die Höhlen verkriechen zu wollen, und nur, weil dies nicht glückte, blieben sie an ihrem Platz und ertrugen den Anblick. Die meisten erbleichten, einigen wurde übel, und nur ganz wenige schauten weiter standhaft in seine Augen. Diese waren gleichgültig und von einer Farbe, die sich so wenig als blau bezeichnen ließ, wie sie grau oder weiß genannt werden durfte, ja, man konnte überhaupt kaum von Farbe reden, denn eher als eine Farbe war es der Widerschein einer fernen Leere.

Wenn es den Touristenscharen dann schließlich gelungen war, ihre Blicke loszureißen, erkundigten sie sich eilig nach dem Weg zur Hagia Sophia, zu den Türben der erhabenen Sultane, zur Bank, zu den alten Bädern, zum Palast der Träume. Und obwohl sie fragten und fragten, gingen die meisten doch nicht weg, sondern irrten über den Platz, als seien sie in eine Falle geraten. Vielleicht lag dies daran, daß der Platz zwar nicht sehr groß, aber immerhin einer der charakteristischen Plätze im Zentrum des vielhundertjährigen Reiches war. Mit grünlich schimmerndem Granit gepflastert, sah er wie in Bronze gegossen aus. Der Eindruck von Solidität, den das Pflaster vermittelte, wurde noch durch die metallenen Löwenköpfe hinter den Eisengittern am Gebäude des Zentralen Staatsarchivs betont, dessen einer Flügel den Platz begrenzte, durch die Bleikuppel der Sultansmoschee, eine mit Hieroglyphen bedeckte Säule, die vor Jahrhunderten als Trophäe aus dem eroberten Ägypten mitgebracht worden war, verschiedene in Metall gegossene Insignien und Symbole des Imperiums und schließlich eben durch das Kanonentor, in dessen Mauern der Schandkasten eingelassen war. Die Einheimischen nannten die Nische Ibret Tasch, also »Stein der Warnung« oder, in freierer Übersetzung, »Lehre aus dem Unheil«.

Unschwer zu erraten, weshalb man den Kasten für die abgeschnittenen Köpfe rebellischer Wesire oder in Ungnade gefallener Größen des Reiches gerade an diesem Platz eingerichtet hatte. Nirgendwo sonst hätte der Kontrast zwischen der gewichtigen Statik des altehrwürdigen Platzes und dem abgehackten Menschenkopf, der sich dagegen zu empören gewagt hatte, einem Passanten augenfälliger werden können. Man sah sofort, daß der Platz für den Kasten in der Mauer so gewählt worden war, daß sich der Eindruck vermittelte, die erloschenen Augen des Kopfes überschauten den ganzen Platz samt allem, was sich darauf befand. Alles hatte den Zweck, auch noch den phantasielosesten Passanten dazu zu verleiten, sich den eigenen Kopf in dieser unnatürlichen Höhe vorzustellen, knapp übermannshoch, doch etwas niedriger als das Haupt eines Berittenen.

Der Platz war wirklich von ungeheurer Solidität. Allenthalben offenbarte sich die Liaison von Metall und Stein. Sogar auf der Terrasse des Kaffeehauses gegenüber, wo den ganzen Tag lang Mokka getrunken wurde, hatte es das Metall in Form schwerer Kupferkannen und -kessel offenbar schnell verstanden, alles, was an d