ERSTES KAPITEL
Niemals hatte es in der Beziehung zwischen dem großen und dem kleinen Doktor Gurameto auch nur das kleinste Anzeichen von Mißgunst gegeben. Obschon sie den gleichen Familiennamen trugen, waren sie nicht miteinander verwandt, und ohne die Heilkunst hätten sich ihre Schicksale vermutlich niemals berührt, jedenfalls wäre ihnen das von beiden nicht gewollte Rangverhältnis, wie es sich in den Beinamen »der große« und »der kleine« ausdrückte, erspart geblieben.
Doch es sah nun einmal danach aus, als habe eine im Verborgenen waltende Hand die zwei bekanntesten Chirurgen der Stadt untrennbar miteinander verbunden und ihr Verhältnis zudem mit einer solchen inneren Harmonie ausgestattet, daß alles genau so sein zu müssen schien, wie es schon seit langer Zeit war.
Der große Doktor Gurameto übertraf den kleinen nicht nur im Alter, sondern auch an Autorität. Außerdem hatte er in Deutschland studiert, das, wie niemand bestreiten konnte, größer und bedeutender war als Italien, wo der kleine Doktor Gurameto die Universität absolviert hatte. Man wartete schon sehr lange vergeblich auf Äußerungen der Rivalität zwischen den Ärzten, doch konnte dies nichts an der allgemeinen Überzeugung ändern, daß sie, wenngleich sorgfältig unter der Oberfläche gehalten, existierte und eines Tages als massivste medizinische Nebenbuhlerschaft in der Geschichte der Stadt viel Aufsehen erregen würde.
Die Zeit bis dahin vertrieb man sich damit, bei jeglichem nennenswerten Ereignis darüber zu spekulieren, was die beiden Mediziner damit zu tun hatten und wie sich die Rangordnung zwischen ihnen dadurch veränderte. Das lag vermutlich daran, daß sich die Leute bei Berufen wie dem ärztlichen schwer damit tun, zweien seiner Vertreter die gleiche Anerkennung zu schenken, weshalb sie froh sind, wenn das Unentschieden irgendwann beendet wird und eine der Parteien die Führung übernimmt. Jedenfalls war bisher bei allen entsprechenden Gelegenheiten die Tendenz dahin gegangen, den großen Doktor Gurameto zum Sieger zu erklären, obwohl das Wort etwas überspitzt klang, genauso wie die Bezeichnung Verlierer für seinen Kollegen.
Als vier Jahre zuvor geschehen war, was die einen als Vereinigung Albaniens mit Italien bezeichneten, die anderen als seine Eroberung durch dieses, schien dieses Ereignis extra erfunden worden zu sein, um den Gleichstand zwischen den Ärzten aufzuheben, sprich, den kleinen Doktor Gurameto im Vergleich mit dem großen radikal auf- oder noch weiter abzuwerten. Es ging lange hin und her. Schien der kleine Gurameto heute noch rettungslos auf der Verliererstraße, so sah es am nächsten Tag schon wieder ganz anders aus. Er selbst ließ sich nie etwas anmerken, während von der Miene des großen Doktors ein verhaltener Ärger abzulesen war, der ihn indessen noch imposanter erscheinen ließ und zudem alle möglichen Deutungsversuche provozierte, bis hin zur Sottise eines humoristischen Blättchens, das darin eine Fernprojektion von Adolf Hitlers Verstimmung sehen wollte, weil sein Freund Benito Mussolini in Albanien gelandet war, ohne ihn vorher zu fragen.
Aus der wochenlangen Konfusion ging der große Doktor Gurameto schließlich mit gestärkter Autorität hervor, was einem Teil der Leute paradox erschien, dem anderen dagegen logisch, weil trotz der italienischen Präsenz in Albanien und den Reibereien zwischen Duce und Führer im Bündnis weiterhin Deutschland dominierte, ohne das sich das Italien des kleinen Dr. Gurameto wie ein hilfloses Waisenkind vorkommen mußte.
*
Genau dieser Zustand stellte sich wenig später ein. Bereits im Herbst des nämlichen Jahres, nach seiner plötzlichen Kapitulation, kam Italien der große Verbündete abhanden. Daß Allianzen gelegentlich zu Bruch gingen, war nichts Neues, doch Italien erwischte es besonders schlimm. Nicht bloß, daß all das Unglück über i