Heldenreise mit Haarbürste
Marie Meier
»Jahrhunderte der Feldbestellung, Jahrzehnte sorgfältigen Sammelns sind in das Zubereiten, Auswählen und Spinnen dieses fest gedrehten Garns eingegangen. Mehr noch: wir brauchen das Abenteuer nicht allein zu wagen. Denn die Helden aller Zeiten sind uns vorangegangen, das Labyrinth ist durch und durch bekannt, und wir haben nur den Pfad des Helden als leitenden Faden zu nehmen.«
Joseph Campbell über die Heldenreise
Der Frisörsalon hat geöffnet. Christina schneidet Spitzen, Natalja macht die Abrechnung. Das ist meine Welt – meine gewohnte Welt. Am Fenster steht Jelka und sehnt sich nach einer Zigarette. Ihre Finger zucken und ihre Lippen reiben übereinander, weil sie das Gefühl des Filters vermissen. Als die Sehnsucht zu groß wird, schiebt sie den Daumennagel gegen ihre Zähne und knabbert daran.
Jelka sehnt sich nach einer Zigarette und ich sehne mich nach Jelka. Der Gedanke kriecht eiskalt meine Wirbelsäule hinauf und direkt in meinen Arm. Wie ein Ruf zum Abenteuer beseelt er meine Hand. »Woran erkenne ich, dass ich lesbisch bin?«, tippe ich mit zitternden Fingern in mein Handy.
Google empfiehlt mir einen Vibrator. Ich stöhne, werfe das Telefon weg und verweigere mich Ruf und Realität. Christina und Natalja starren mich an. Nur Jelka, die blickt aus dem Fenster und sehnt sich nach einer Zigarette.
Aus einem grasgrünen Mai wird ein dottergelber Juli. Meine Welt schwimmt in entsättigten Farben, obwohl alles in Blüte steht. Dazwischen wandelt Jelka. Sie trägt Pflaume und Rindenbraun, ist durch und durch Herbstmensch, doch auf der Leinwand meiner Fantasie ist sie so farbenfroh wie der personifizierte Sommer.
Die Türklingel reißt mich aus meinen Tagträumen. Mit den gleißenden Sonnenstrahlen tritt eine Gestalt ein. Ihre geblümte Bluse ist schreiend rot, ebenso wie ihre Lippen. Ihr folgt ein Schwall drückender Hitze, die die Klimaanlage panisch aufheulen lässt. Christina beugt sich zu mir.
»Sagste zu sowas nun Herr oder Frau?« Ihr Mundwinkel schießt hämisch in die Höhe und versucht, ihre Unsicherheit zu kaschieren. Christina isst jeden Tag dasselbe. Ihre Kinder heißen Sonja und Michael. Kategorien jenseits ihrer Alltagswelt irritieren sie.
»Guten Tag«, sage ich laut. »Haben Sie einen Termin?«
Frau Kellner hat einen Termin. Ich bitte sie auf den Drehstuhl und werfe ihr den langen Überwurf um, der ihre Bluse davor bewahren wird, später voller Haare zu sein.
»Darf ich?«
Sie nickt. Ich hebe ihre Perücke vom Kopf und lasse die Finger durch die kurzen, graumelierten Locken fahren.
»Spitzenschneiden, bitte. Ich habe später einen wichtigen Termin.« Ihre Stimme ist sanft. »Im Büro. In meiner beliebtesten Rolle, als Herr Kellner.«
Diesmal ist es an mir, zu nicken. Ich schneide Frau Kellner das Haar, das sie in ihrer schauspielerischen Performance als Herr Kellner darbieten muss. Sie spiele dort, so erzählt sie mir, einen langweiligen IT-Fachmann. Ich drücke mein Mitleid aus, denn Computer sind das Letzte. Frau Kellner ist mir sympathis