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Weihnachten 1958
Das Drama des hintangestellten Kindes begann für Hartmut Gallwitz am zweiten Weihnachtsfeiertag. Seine Mutter kam von der Entbindungsstation zurück und brachte ein Brüderlein mit. Hartmut war vier Jahre alt; der Kleine sollte Siegfried heißen. Der Vater war am Vormittag noch schnell mit Axt und Säge in den Wald gefahren und hatte eine krumme Fichte geholt. Er stellte das Bäumchen in einen Blumentopf mit Schottersteinen aus dem Garten und diesen auf einen Suppenteller. Dann goss er mit einer Bierflasche Wasser über den Schotter. Als Weihnachts- oder Begrüßungsdekoration warf er eine rosa Luftschlange vom letzten Kinderfasching über die Zweige. Hartmut staunte, denn dieser Christbaum sah ganz anders aus als der im Kindergarten oder die in den Schaufenstern der Kauf-häuser. Keine Kerzen, keine Kugeln, kein Lametta.
Klein Siegfried wurde in den alten Stubenwagen gelegt und zum Baum geschoben. Er begann zu plärren und fuchtelte mit den Armen. »Warum schreit der jetzt?«, fragte der Vater. »Hat er Hunger oder Blähungen?« Die Mutter antwortete nicht, sondern gab dem Kind ihren Zeigefinger zum Festhalten.
Es dauerte nicht lange, bis Oma und Opa vorbeischauten. Hart-mut stellte sich an den Wagen und zeigte stolz auf seinen Bruder. »Er heißt Siegfried«, sagte er. Sein Vater packte ihn am Hemdkragen und zog ihn zurück. »Lass mal die Großen ran, Kurzer. Die wollen ihn auch anschauen.« Die Großen hatten dicke Hintern und Bäuche. Hartmut konnte nichts mehr sehen. Niedergedrückt ging er in sein Zimmer, holte die Schachtel mit den Zinnsoldaten unter dem Bett hervor und kippte den Inhalt auf den Spieltisch. Er stellte ein Pelo-ton aus sieben Füsilieren zusammen, die mit angelegten Flinten auf einen Mann zielten. »Peng!«, rief er und gab dem Exekutierten einen Schubs. »Toter Papa.«
Hartmut Gallwitz blieb ein schmächtiges Kind. Wenn Turnlehrer Vogler in der Grundschule zu Beginn der allwöchentlichen Leibeserziehung die dreiundzwanzig Jungen der Größe nach antreten ließ, stand Hartmut als Vorletzter in der Reihe. Nur Paul Schmied war kleiner.
An Heiner Vogler war alles grau. Trainingsanzug, Turnschuhe, Haarkranz und Gesichtsfarbe. Auch der Lederhandschuh, den er an der Unterarmprothese trug. Seine linke Hand hatte er am Omaha Beach verloren, als er und seine Kameraden 1944 die Landung der US-Truppen in der Normandie verhindern sollten. Am Handgelenk der Rechten hatte er einen Lederriemen befestigt, den zu fürchten nicht nur Hartmut Gallwitz gelernt hatte. Schaffte ein Schüler die zehn Liegestütze nicht, ohne abzusetzen, oder landete er nach dem Sprung über den Kasten nicht auf beiden Füßen, bekam er ihn zu spüren.
»Reißt euch zusammen, ihr Waschlappen! Sonst zieh ich euch die Hammelbeine lang, dass ihr vierzehn Tage rückwärtsgeht«, war einer von Voglers Lieblingssprüchen.
Fast genauso schlimm war Dr. Rätke, die matronenhafte Schul-zahnärztin. Zweimal im Jahr überprüfte sie in der Aula die Zahnge-sundheit und ließ die Klasse, ebenfalls der Größe nach, Aufstellung nehmen. Ohne den Holzspatel zu wechseln, drückte sie jedem die Zunge nach unten und kontrollierte ausgiebig die Gebisse. Hartmut bekam regelmäßig einen Würgereiz und die immer gleiche Dia-gnose.