: Cordula Simon
: Mondkälber
: Septime Verlag
: 9783991200512
: 1
: CHF 12.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 168
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Zwei Monde stehen am Himmel und reißen an den Meeren, und wir alle glauben nicht das, was wir sehen, sondern sehen, was wir ohnehin schon glauben. Dies ist die Geschichte einer Bekanntschaft dreier Menschen von schier unwiderstehlicher Anziehungskraft: Irina strebt eine Kunstkarriere als Bildhauerin an, und Jevgenij plant eine Revolution, während unser beobachtendes Subjekt angezogen wird von den seltsamen Begebenheiten, Geschichten von Wolpertingern, Anglerfischen, Entführungen und Illusionen dieser beiden, die sich lange wissenschaftlich wegerklären lassen. Doch auch als die Erklärungen ausbleiben, ist es nicht mehr möglich, sich dem Sog aus Geheimnissen zu entziehen: Irina kann keinen Stein behauen, vielmehr ist es der Teich im Garten, der alles versteinert, was hineinfällt. Jevgenij ist nicht nur in die Revolution involviert, sondern verrät diese, um sich zu bereichern, und wer ist dieser Scharfschütze, der sein Unwesen treibt? Geheimnisse, die bewahrt werden müssen bis in den Tod oder zumindest, bis unser Subjekt sich die Zunge abbeißt und sich für tot hält, um sowohl Krieg als auch Gesellschaftsabende mit Kunstkennern, Katzen, Ärzten und Journalisten schweigend zu ertragen auf dem Weg zur (Beinahe-)Selbsterkenntnis.
CORDULA SIMON wurde 1986 in Graz geboren, wo sie nach einem längeren Aufenthalt in Odessa (UKR) wieder lebt. Neben Studien zur deutschen und russischen Philologie sowie Gender Studies gehören Medienlinguistik, mediale Literarizität und Radikalisierungsprävention zu ihren wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten. Sie ist Mitglied der GAV und leitet Workshops für die Jugend-Literatur-Werkstatt Graz. Für ihre Literatur wurde sie mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

Der selbsternannte Mineraloge referierte über den Unterschied von gepresstem Stein, einerseits Korunde wie Saphire und Rubine und Ablagerungen wie Süßwasserschwämme, die mit ihren hohlen Kieselnadeln Erdschichten trennten und gepresst Feuerstein ergaben. Kein Feuerstein ohne Wasser, kein Feuerstein ohne Glasschwämme – wie kurios, dass man für Feuer Wasser brauchte. Für leuchtende Krebse wahre Kristallpaläste oder gar Grabkammern, wenn sie zu dick dafür werden. Dieses zauberhafte Bild der Krebse zerdonnerte er mit einem einzigen Wort: »Seuchenkörper.«

Ein einzelner Seuchenkörper könne eine derartige, versteinernde Veränderung des Bodens herbeiführen. In solchen Momenten dachte mein Körper jedoch die Gedanken deutlicher als mein Geist: Ich wischte die triefenden Hände an meiner Hose ab. Der bedauernswerte indische Junge, dachte ich. Das Wort »Seuchenkörper« ließ mich an ihn denken, vielleicht, weil er die Spinnenplage gebracht hatte.

Auch hätte jener Selbsternannte selbst allzu gerne gewusst, wie all dies in echten Farben ausgesehen hatte, denn er habe sogar begonnen, grünstichig zu sehen, durch das Rot der spektakulären und beeindruckenden Sonnenuntergänge. Wie Weintraub immer sagt, man sehe nur, was man erwarte, das Gehirn sagt rot, dann grün zu sehen, zeugt davon, dass mit dem Selbsternannten etwas falsch sein musste. [Diese letzte Einschätzung über den besagten Journalisten stammt nicht von Dr. Weintraub. Auch wenn klar ist, dass die Erwartung großen Einfluss hat: Wir sehen, was wir erwarten, weil wir bereits etwas gesehen haben. Der Verstand kann nur entscheiden, genauer hinzusehen, wenn unsere Erwartungshaltung nicht zu ausgeprägt ist. Anmerkung: Dr. Weintraub]

Von diesen Farben hatte er jedoch kaum erzählt, sondern nur davon, dass nachts sämtliche Tiere das Lager umkreisten und dass er hätte glauben können zu ersticken, hätten nicht die Todesschreie von Tieren davon gezeugt, dass der Sauerstoff zum Schreien wohl auch für den Schlaf ausreichen müsste. Dies brachte Emotschka zum Weinen. Gideon schwätzte so lange, dass ich zu dem Schluss kam, vom Standpunkt der Physik könne Sprache nicht von Lärm und Rauschen unterschieden werden. Vom Standpunkt meiner Seele aus auch nicht.

War Besuch da, schlief der Schatten oft regungslos in jenem Korb mit Heu, während Oskar den Platz auf Irinas Kleid zurückerobert hatte, auch wenn es nach dem anderen roch. An einem Abend schnitt sie den Saum ihres Kleides ab, um Oskar nicht zu wecken, erhob sich und komplimentierte Gideon, Birne und die immer noch heulende Emotschka zur Tür hinaus, zur Tür hinaus. Dann drehte sie sich zu uns um. Sie müsse uns etwas zeigen, sagte sie mit Grabesstimme.

Oskar, ignorant gegenüber all der Rücksicht, die man ihm erteilte, hopste auf das Parkett, pausierte, forschend, als sei er bereit, vor etwas zu flüchten. Ich streckte meine Hand aus, doch er blieb regungslos, blickte mich aus gelben Augen an. Doch sein Blick folgte in Wahrheit Irina, die vom Tischlein neben der Tür eine Statue ergriff – einen steinernen Oskar. Nicht, wie der Heimkehrer, abgemagert, sondern in voller Leibespracht, wie man ihn vor seinem Champagnerglas liegend vorgefunden hätte. Sie winkte mir mit einem Buch, das betitelt war mitGraue Magie, es ginge um die Wissenschaft hinter jenem, was uns magisch erscheine. Das Übernatürliche ähnelte uns nur zufällig und derartige Grimoires konnte man sich einfach nach Hause kommen lassen. Es gab keine Geheimnisse mehr auf der Welt, anders als in jener Zeit, als Bücher per Hand geschrieben wurden und rar und teuer waren. Da glaubte man ja auch, glauben zu müssen, was da geheimnisvollerweise stand, bloß weil es da stand. Sie sagte das mit immer feuchter werdenden Augen, glasig wie Vodka.

 

An einer Hand zog sie mich durch das Haus hinaus zur Terrassentür, und ich staunte, fragte mich, wie lange ich nicht mehr hierhergekommen war, wie überwuchert der Garten sich zeigte und trauerte um verlorene Zeit, während draußen laut etw