KAPITEL 1
Kikis Traum
Heia hei, kleines Mädchen schlaf schnell ein,
Dein Haar kämmt die Mutter, dir näht sie
ein Kleid,
Dir zwinkern die Sterne, der Mond gibt dir Geleit,
Du bist Mamas Schatz allein …
Heia hei, kleines Mädchen schlaf schnell ein,
Für dich tanzt der Nachtfalter, dir singt
die Nachtigall,
Bei Hitze und Kälte, dich schützt sie überall,
Du bist Mamas Schatz allein …
Die Lichter schon gelöscht, die Nacht ist
eingeschlafen,
Meine Wärme und Liebe gehören ganz dir.
Nun schlaf auch du, mein Kind, im Traum sehn
wir uns wieder,
Ich träum schon von dir, ich hör dich schon
lachen …
Ein Mädchen, recht dünn und sehr blass, lag summend auf einem klapprigen alten Holzbett gegen das Kopfpolster gelehnt. Seine Füße baumelten über der Bettkante, während es durch ein Paar dunkler lebhafter Augen auf die Schlafzimmerwand starrte. Auf die Wand hatte jemand Sterne gemalt und einen Mond, dessen Linien das Mädchen selbstvergessen mit dem Finger in die Luft nachzeichnete. Das Mädchen hatte ein rundes Gesicht, feine Sommersprossen auf den Wangen und sein kurzes Haar war zerzaust und strubbelig. Als es sich in seinem weiten alten Pyjama nach einem Buch streckte, das aufgeschlagen neben seinem Polster lag, knarzte das Bett.White Fox lautete der Titel auf dem Umschlag.
Durch ein Fenster fiel silbriges Mondlicht in das kleine Zimmer. Nur das Bett und ein kleiner Schreibtisch standen darin. Viel mehr passte auch gar nicht hinein. Auf dem Schreibtisch lagen Hefte und Zettel mit Hausaufgaben aus den Sommerferien. In einer Ecke türmte sich auf dem Boden ein Stapel Kinderbücher. Die Zimmerdecke war voller Schimmelflecken und die Wände mit den verschiedensten Motiven bemalt: Ein Sternenhimmel war da und das Meer, außerdem Dilah, der Polarfuchs, und Sun Wukong, der Affenkönig.
Was das Mädchen namens Kiki da so sanft und leise vor sich hin summte, war ein Schlaflied. Ihre Mutter hatte dieses Lied oft gesungen. Und so stellte sich Kiki auch jetzt vor, ihre Mutter säße neben ihr und singe sie in den Schlaf. Nach und nach wurde ihre Stimme leiser. Langsam schloss sie die Augen und versank tief in einen Traum …
Bunte Luftbläschen trieben dicht an Kiki vorüber. In diesem Traum trug sie ein rotes Kleid und saß auf einer feinen weißen Koralle auf dem Meeresgrund. Wie ein unendlich großer weißer Wald zogen sich die Äste und Stämme des Korallenriffs weit über den sandigen Boden hinweg. Der Meeresboden war weder kalt noch düster, wie man vielleicht annehmen würde. Das Licht hier war von einem durchscheinenden Hellblau, das Wasser angenehm warm und Kiki konnte darin problemlos atmen. Fantastisch leuchtende Fische flitzten immer wieder an ihr vorbei. Alles hier wirkte wie ein riesiges wunderbares Gemälde. Luftblasen perlten aus Kikis Mund. Ihr schwarzes Haar tanzte im Rhythmus der Strömung. Derselbe Rhythmus trug die Leuchtquallen über ihr durch das Wasser. Zu ihren Füßen schwankte das Seegras wie zur Melodie eines stillen Walzers hin und her. Irgendwo in der Ferne klang lange das Lied eines Walgesangs nach, dem die Wellen den Takt klatschten. Ein paar gelb schimmernde Segelflosser und Clownfische umrundeten Kiki. Sie schwammen auf und ab, mal schnell und mal langsam. Verspielt streckte Kiki eine Hand nach ihnen aus.
»Blubb, blubb!« Kiki lachte und aus ihrem Mund stieg ein fröhliches Gluckern. Sie strampelte ein paarmal mit den Beinen, dann stand sie auf und blickte in die Ferne. Die Hände wie einen Trichter vor den Mund gelegt, rief sie laut: »Kun!«
»Tuuut …«, antwortete eine Stimme von weit her. Ihr Echo hallte über den Meeresgrund.
Es dauerte nicht lang, da kam ein Wesen auf Kiki zugeschwommen – es war ei