1. KAPITEL
Der dicht fallende Schnee nahm ihr fast die Sicht, als Anna Rostoff ihren klapprigen Wagen in der Dunkelheit vor dem alten russischen Palast parkte. Unterwegs wäre sie zweimal fast von der Straße abgekommen, doch sie hatte die Stadt erreicht und die Lebensmittel und vor allem die fiebersenkenden Zäpfchen für ihr Baby besorgen können.
Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, nahm sie die Tüte vom Beifahrersitz und stieg aus.
Vorsichtig ging sie durch den Schnee und die geschwungene Treppe zu dem zweihundert Jahre alten Gebäude hinauf. Hinter den Fenstern brannte kein Licht, sie mussten Strom sparen, um ihren Lebensunterhalt besser finanzieren zu können. Nur das schwache Mondlicht erhellte den angrenzenden Wald.
Wir werden es schaffen, dachte Anna. Es war April und der Frühling noch in weiter Ferne, aber im Schuppen lag stapelweise Brennholz. Sobald sie Arbeit als Übersetzerin gefunden hätte, würde sie mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem vier Monate alten Baby ein ganz neues Leben beginnen können. Nach einigen sehr schweren Monaten schien sich jetzt endlich alles zum Guten zu wenden.
Als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.
Die Haustür stand offen.
Mit angehaltenem Atem betrat Anna die große Eingangshalle, in die der eisige Nordwind die Schneeflocken trieb.
„Natalie?“ Ihre Stimme hallte in dem großen Raum.
Dann hörte Anna einen unterdrückten Schrei.
Sofort ließ sie die Tüte fallen und rannte den Flur entlang zu der Wohnung im hinteren Teil des Gebäudes.
Eine dunkle, breitschultrige Gestalt, die in der Nähe des Kamins stand, hob sich gegen den Kerzenschein ab.
Nikos!
Trotz allem, was passiert war, verspürte Anna für einige Sekunden ein Glücksgefühl. Im nächsten Moment fiel ihr Blick auf die leere Wiege.
„Sie haben das Baby mitgenommen, Anna!“, brachte Natalie schluchzend hervor. Ihre Augen hinter den Brillengläsern waren vor Angst geweitet. Zwei Bodyguards, die im Feuerschein noch bedrohlicher wirkten, standen links und rechts von dem Sessel, in dem Annas Schwester saß, und hinderten sie daran aufzustehen. „Sie sind hier eingedrungen, während ich eingenickt war, und haben ihn einfach aus der Wiege genommen. Ich habe ihn schreien hören und versucht, sie davon abzuhalten …“
Panik überkam Anna. Wo war Mischa? Hatte man ihn womöglich schon auß