1. KAPITEL
„Das schaffe ich spielend.“ Octavia holte Luft, um fortzufahren, doch ausgerechnet in dem Moment erwischte das Gefährt ein tiefes Schlagloch. Sie prallte gegen die Seitenwand und konnte sich gerade noch an der Kante der samtbezogenen Sitzbank festhalten. „Denn eigentlich ist es ganz einfach“, setzte sie mit der für sie typischen Selbstsicherheit hinzu, obwohl sie nicht einen Hauch davon verspürte. Aber das lag wahrscheinlich nur an der schwankenden Kutsche. „Ich verkaufe das Haus und das Inventar. Beides zusammen sollte einen ansehnlichen Ertrag erbringen.“
Ihr Begleiter erwiderte nichts darauf. Was jedoch, wie Octavia im Stillen befand, nicht anders zu erwarten war.
„Von dem Erlös kann ich dann meine Schulden bei Mr. Higgins bezahlen.“ Ihre Miene verfinsterte sich, als sie an den Gentleman dachte. Im Zuge ihrer Überlegungen, ein Darlehen aufzunehmen, hatte sie Nachforschungen angestellt, und herausgefunden, dass Mr. Higgins relativ vernünftige Zinsen verlangte, jedenfalls für einen Geldverleiher, doch er drohte auch mit unverzüglichen Vergeltungsmaßnahmen, wenn die Summe nicht pünktlich und komplett zurückgezahlt wurde.
Mr. Higgins hatte ihr bereits zwei Mal einen Besuch abgestattet, ihr versichert, dass er ihr sämtliche Knochen brechen und ihr Leben ruinieren würde, wenn sie die Rate, mit der sie in Verzug war, nicht abzahlte.
Vielleicht war es auch umgekehrt, und er wollte erst ihr Leben ruinieren und ihr anschließend sämtliche Knochen brechen.
„Und welchen meiner Knochen wird er sich wohl als ersten vornehmen?“, fragte sie ihr Gegenüber seufzend. Auch diesmal kam keine Antwort. „Wenn er vorhat, mir den Arm zu brechen, wäre es schwierig, aber nicht unmöglich. Das Bein hingegen wäre kniffliger. Ich kann mir beibringen, mit der anderen Hand zu schreiben, wenn ich muss, aber sich auf nur einem Beinen fortzubewegen, könnte problematisch werden.“ Sie schnaubte verärgert und streckte in einer fast flehenden Geste die Hände aus. „Was sollte ich machen? Ich dachte, es sei eine günstige Gelegenheit, und wenn ich eine günstige Gelegenheit entdecke, muss ich sie beim Schopf ergreifen. Risiko hin oder her.“
Octavia war Teilhaberin und Mitbetreiberin eines Spielcasinos, daher lag es nahe, dass sie Risiken einging – oder, bescheiden ausgedrückt, einen Einsatz wagte, wenn sie sicher sein konnte, dass der Gewinn es rechtfertigte. Daher die Schulden.
„Es ist ganz einfach“, wiederholte sie fest und reckte trotzig das Kinn. Wobei ihr Hut gegen die Rückwand der Kutsche stieß und ihr anschließend über die Augen rutschte. Mit einer grimmigen Geste rückte sie ihn zurecht. „Vater hat ein Testament hinterlassen, und wenn ich ein bisschen suche, werde ich es auch finden.“
An diesem Punkt pflegte Ivy, ihre ältere Schwester, für gewöhnlich einen Fehler in Octavias Planung zu entdecken.
So hätte sie ihr zum Beispiel in Erinnerung rufen könne