: Ismail Kadare
: Der Anruf Untersuchungen
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104920320
: 1
: CHF 19.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eines der großen Rätsel des 20. Jahrhunderts und das Lebensrätsel Ismail Kadares 1934: Moskau ist ein Labyrinth aus Angst und Verrat. Jeder kann jederzeit verhaftet werden. Auch Ossip Mandelstam, dessen gegen Stalin gerichtetes Gedicht keiner lesen darf, das aber alle kennen. Da ruft Stalin selbst Pasternak an. Drei Minuten dauert das legendäre Telefonat zwischen Diktator und Dichter. Stalin fragt, ob Pasternak Mandelstams giftige Verse kenne. Ja oder nein, jede Antwort führt in eine Falle und entscheidet über Mandelstams Leben oder Tod.  Bis heute ist es ein Rätsel, was Pasternak in diesen drei Minuten sagte: Warum konnte er Mandelstam nicht retten? In Moskau geriet Ismail Kadare während des Studiums in den Bann dieser Frage. Als albanischer Schriftsteller kennt er die dunklen Schatten der Macht und die Konfrontation von Politik und Kunst. Das Telefonat, das er wie in einem Kriminalroman bis in die kleinsten Details seziert, spiegelt ihm sein Lebensrätsel wider. »Die wohl ultimative mythische Anekdote aus der stalinistischen Ära« Slavoj ?i?ek

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

I


An der Haltestelle auf der rechten Straßenseite steigst du in den Trolleybus der Linie 3 und fährst bis zum Puschkinplatz, wo das berühmte Denkmal steht.Exegi monumentum, du weißt schon. Gehe rechter Hand daran vorbei und überquere die Gorkistraße. Ein paar Schritte weiter, an der Kreuzung, beginnt der Twerskoj-Boulevard.

Ab hier ist alles ganz einfach. Wieder auf dem rechten Bürgersteig erreichst du zu Fuß in weniger als einer Minute das Eingangstor zum Gorki-Institut. Vielmehr, es taucht vor dir auf. Verstehst du, es ist plötzlich da, obwohl man vielleicht gar nicht damit rechnet …

Aber ich rechne natürlich damit. Seit Jahren träume ich von diesem Ort. Keine Ahnung, vielleicht ist das gar nicht so gut, denn wenn man etwas zu sehr will, verliert es mit der Zeit seinen Reiz. Für mich gilt das aber auf keinen Fall! Ich habe mich unglaublich angestrengt, um diese Chance zu bekommen. Die Trolleybusse wiehern schrill, wie wilde Pferde. Man muss aufpassen, ständig tritt man in irgendwelche Löcher. Dann erblicke ich es endlich, das berühmte Denkmal. Wie mir gesagt wurde, gehe ich rechts daran vorbei …

Was für ein Denkmal, mein Junge? Das ist doch dummes Zeug, hier gibt es kein Denkmal … Wie, gibt es nicht? Das Puschkin-Denkmal? Ich war schon so oft hier. Eine optische Täuschung, nichts weiter, ein Denkmal gab es hier noch nie. Dass ich nicht lache, die ganze Welt kennt es:Exegi monumentum … Von wem außer dir sollte ich es denn sonst haben:Ein Denkmal schuf ich mir … Weiter, mein Junge!Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes … Einnerukotwornyj monument, ein wundersames Monument also. Da bist du ihm aber schön auf den Leim gekrochen: Wenn nicht Hände, sondern Seelen es errichtet haben, kann es auch keiner sehen. Bloß ihr Dummköpfe, ihr Studenten des Gorki-Instituts.[1]

 

 

Nein, so sind wir nicht. Noch viel schlimmer seid ihr. Jeder versucht, den anderen vom Sockel zu stoßen, um selber hinaufzuklettern. Denk an das Pasternak-Meeting? Das war doch etwas ganz anderes … Warst du dabei, hast du ebenfalls Parolen gebrüllt? Natürlich nicht! Was tatest du dann, während die anderen stänkerten? Ich starrte ein Mädchen an, dem die Tränen über die Wangen liefen. Seine Nichte, dachte ich …

Hoffst du nach all den Jahren auf ein Wiedersehen? Glaubst du, das Meeting ist immer noch im Gange? Kann sein. Eigentlich spricht vieles dafür. Das erstickte Geschrei dort hinten weist einem besser den Weg als die Tafel am Tor. Es hört nie auf, dieses Getöse, egal ob in Moskau oder Tirana.

 

Dieser böse Traum setzt mir seit Jahren zu, in den verrücktesten Varianten. Quietschende Trolleybusse auf holperigen, mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Ein verleugnetes Denkmal. Tränenüberströmte Wangen. Das verführerische Moskau.

Ich war so wild entschlossen, darüber zu schreiben, dass es mir manchmal so vorkam, als seien die Buchstaben, die ich brauchte, bereits in der Ecke aufgestapelt und warteten nur darauf, endlich Wörter zu bilden.

Häuften sich in meinen Träumen Reisen, war es ein sicheres Zeichen dafür, dass es bald so weit war. Die nächtlichen Erlebnisse wurden immer konfuser und unlogischer. Der Trolleybus der Linie 3 verweigerte manchmal die Arbeit, so dass man die Peitsche einsetzen musste. Das gab mir zu denken. Ich war seit Jah