: Ismail Kadare
: Doruntinas Heimkehr Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104920610
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Vor unseren Augen entsteht gerade eine Legende« Es ist mitten in der Nacht, als Doruntina an die Tür ihres Elternhauses klopft. Ganz unerwartet habe ihr Bruder Konstantin sie aus dem fernen Böhmen hierher nach Hause gebracht, erklärt sie ihrer Mutter. Aber Konstantin ist seit zwei Jahren tot, im Krieg gefallen wie alle neun Brüder von Doruntina. Die Mutter bricht zusammen. Doruntina aber beharrt auf ihrer Geschichte, die für immer größere Unruhe im Dorf sorgt. Bezirkshauptmann Stres versucht, das Rätsel um Doruntinas Heimkehr lösen, und wird doch selbst immer weiter hineingezogen in die unerklärlichen Umstände. Ismail Kadares Bearbeitung einer albanischen Volkssage ist eindrückliche politische Metapher, eine brillante Kriminalnovelle und ein spannender Versuch über die Wahrheit in allen Zeiten.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

Zweites Kapitel


Stres erließ einen Befehl, der binnen eines Tages in allen Gasthäusern, an Wegkreuzungen und Furten angeschlagen wurde. Darin verlangte er Mitteilung über jede Wahrnehmung in der Nacht zum elften Oktober, soweit sie einen Reisenden mit einer Frau betraf, ob sie nun gemeinsam auf einem oder auf zwei Pferden oder mit einem beliebigen anderen Verkehrsmittel unterwegs gewesen waren. Falls sie jemand bemerkt hatte, ging es darum, zu wissen, welchen Weg sie genommen, in welchem Gasthaus sie abgestiegen waren, ob sie selbst oder das Pferd beziehungsweise die Pferde etwas zu sich genommen hatten, und möglichst auch, in welcher Beziehung sie zueinander gestanden hatten. Ein Hinweis am Schluss des Befehls bezog sich auf Frauen, die allein, ohne Begleitung gereist waren.

»Jetzt gehen sie uns nicht mehr durch die Maschen«, sagte Stres zu seinem Gehilfen, als der Chefkurier mitteilte, das Zirkular sei selbst nach den entferntesten Orten abgegangen. »Ein Mann und eine Frau gemeinsam auf einem Pferd, das ist doch ein Anblick, der sich einprägt, oder nicht? Und selbst wenn es zwei Pferde waren, letzten Endes kommt das auf das Gleiche heraus.«

»Gewiss«, erwiderte der Gehilfe.

Stres erhob sich und ging zwischen Schreibtisch und Fenster auf und ab.

»Damit stoßen wir ganz sicher auf ihre Spur, außer sie sind auf einer Wolke hergeflogen.«

Der Gehilfe hob den Kopf.

»Daran könnte man bei dieser Geschichte fast denken«, sagte er. »Dass sie durch die Wolken gekommen sind.«

»Denkst du immer noch daran?« fragte Stres lächelnd.

»Jedermann denkt daran«, antwortete der Gehilfe.

»Jedermann darf das, bloß wir nicht.«

Ein plötzlicher Windstoß ließ die Fensterscheiben erzittern und überzog sie mit Regentröpfchen.

»Jetzt wird es richtig Herbst«, sagte Stres nachdenklich. »Mir ist aufgefallen, dass die seltsamsten Dinge im Herbst passieren.«

Im Zimmer kehrte Schweigen ein. Stres stützte die Stirn auf den rechten Handballen und sah eine Weile hinaus in den feinen Regen. Doch es dauerte nicht lange, und inmitten der Leere seines Gehirns meldete sich hartnäckig, drängend die Frage zurück: Wer war der unbekannte Reiter? Ein paar Minuten war da schon ein ganzer Schwall von Mutmaßungen, die kunterbunt durcheinanderpurzelten. Offensichtlich kannte sich der Unbekannte bei der Familie Vranaj aus, wusste um die Tragödie, die das Haus ereilt hatte, wenn nicht in den Details, so doch mindestens in groben Zügen. Er war informiert über den Tod der Brüder und zugleich über Konstantins Versprechen, sein Ehrenwort. Außerdem wusste er, wie man von der Grafschaft in Mitteleuropa nach Arberien gelangte. Aber weshalb das Ganze?, hätte Stres fast laut gerufen. Weshalb hat er es getan? Hat er mit einer Belohnung gerechnet? Auf Entspannung hoffend, öffnete Stres den Mund. Obwohl die Hoffnung auf eine Belohnung als Motiv banal anmutete, war solches nicht von der Hand zu weisen. Schließlich war allgemein bekannt, dass die alte Dame nach dem Tod der Söhne dreimal Boten ausgesandt hatte, damit sie Doruntina herriefen. Zwei kehrten zurück und gaben an, es sei einfach kein Durchkommen gewesen. Immerhin war es eine überaus lange Reise, und sie führte durch das Gebiet sich bekriegender Stämme. Wie vereinbart, zahlten sie der alten Dame die Hälfte des Lohnes zurück. Der Dritte hingegen blieb verschwunden. Vielleicht war er