Erster Akt
Finster wie ein leeres Grab
Kapitel1
Finsternis wogte in seinen Adern. Als dunkle Strähnen strömte sie ihm aus den Fingern und trübte ihm die Sicht, und wenn er zu viel und zu intensiv grübelte, blutete sie ihm in schwarzen Strömen die Arme hinauf.
Die Angst steht dir gut.
Die hoch stehende Sonne warf Nasir Ghameqs Schatten auf das Deck von Jinans Schiff, während er den Deckel der Kiste wieder an seinen Platz schob, gefühlt schon zum tausendsten Mal, seit sie Sharr verlassen hatten. Ein gleichmäßiger Puls pochte ihm gegen die Finger. Er stammte von den vier Herzen, die in der Kiste lagen. Früher einmal hatten sie vieren der Sechs Schwestern von Einst gehört, den Gründerinnen Arawiyas. Mit ihrer Magie hatten sie die Reichsminarette der fünf Kalifate versorgt, Verstärker, durch die diese Magie in kleinen Mengen an die Massen verteilt worden war. Solange die Organe nicht wieder in ihren Minaretten lagen, war die Magie so gut wie verschwunden – so wie es auch die vergangenen neunzig Jahre der Fall gewesen war.
In Nasir jedoch existierte sie weiterhin, ein Umstand, den er wegen der Schatten, die um ihn geisterten, nicht für sich behalten konnte.
»Das fünfte Herz wird nicht einfach so aus dem Nichts erscheinen, nur weil du immer wieder in diese Kiste starrst«, sagte Kifah, die geschmeidig aus dem Krähennest geklettert kam. »Und er auch nicht.« Der Reif um ihren Oberarm funkelte. Gekreuzte Speere waren darauf eingraviert, die daran erinnerten, was sie einst gewesen war: eine der Neun Auserlesenen, die die Kalifin von Pelusia beschützen.
Schmerzlich erkannte Nasir, dass er nur darauf wartete, dass ein gewisser goldhaariger General etwas auf die blitzgescheiten Worte der Kriegerin erwiderte, vielleicht etwas Albernes, vielleicht etwas Kluges, aber auf jeden Fall vollendet mit einem schmeichelhaften »Eine von Neun«.
Was hingegen folgte, war Stille, so laut und beunruhigend wie die tosenden Wellen der Baransee.
Nasir ging zu Jinan. Die tiefe Wunde an seinem Bein, mit der ihn ein Ifrit auf der Insel Sharr beglückt hatte, zwang ihn, sich humpelnd über das Deck zu bewegen. »Wir sind jetzt seit zwei Tagen auf See. Warum dauert das denn so lange?«
Das zaramesische Mädchen sah ihn vom Steuer aus an. Widerspenstige, dunkle Locken kräuselten sich unter ihrem karierten Turban, der ihre braunen Augen in einen rötlichen Schimmer tauchte. »DieAnqa ist das schnellste Schiff weit und breit, mein Prinz.«
»Sie ist ja auch weit und breit daseinzige Schiff, Kleine«, bemerkte Kifah.
Jinan funkelte sie an. »Ich bin nicht klein. ›Anqa‹ bedeutet ›Phönix‹. Du weißt schon, wie der unsterbliche Feuervogel? Benannt nach meinem liebsten Stern. Mein Vater …«
»Das interessiert niemanden«, sagte Nasir, der die Kiste mit den Herzen in eine sichere Ecke nahe dem Steuer geschoben hatte. »Wie lange noch?«
Jinan seufzte übertrieben. »Fünf Tage«, verkündete sie mit einem Selbstbewusstsein, das sogleich von Nasirs ernüchterndem Blick zerstört wurde. »Was denn, mein Prinz, hat dein Schiff etwa nur sechs Tage für die Hinreise benötigt? Vergib mir, dass mir nicht die Mittel des Sultans zur Verfügung stehen.«
»Mein Schiff«, entgegnete Nasir langsam, »war in weniger alszwei Tagen vor der Küste von Sharr, und das, obwohl wir unterwegs gegen einen Dandan kämpfen mussten.«
Jinan stieß einen beeindruckten Pfiff aus. »Von diesem Schiff würde ich mir liebend gerne mal die Pläne ansehen, wenn wir dein schickes Serail erreichen. Warum überhaupt die Eile?«
Nasir konnte eine gewisse Gereiztheit nicht verbergen, zumal sich eine schwarze Strähne aus seinen Fingerspitzen schlängelte.
Jinan starrte ihn an.
Kifah tat so, als würde sie es nicht bemerken, was Nasir nur noch mehr verärgerte.
»Hast du eine Schule besucht?«
Jinan verengte die Augen. »Warum ist das wichtig?«
»Weil du dann wüsstest, wie fatal es ist, wenn ich sage, dass der Löwe der Nacht am Leben ist«, erklärte Nasir, und der Haschaschine in ihm freute sich, als sich die Augen der Kapitänin vor Schreck weiteten. Von dem Herzen, das der Löwe gestohlen hatte, erzählte er hingegen nichts, denn es war ihm egal, ebenso sehr wie die Magie. Was ihn jed