Vorspiel
Anfang März2015. Es ist ein lausig kalter Wintertag. Der Wind pfeift uns um die Ohren. Wir erkunden zu Fuß die Umgebung von Dessau, gelangen dorthin, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt. Nach einigen Stunden bekommen wir Hunger. Aber kein Café oder Lokal in Sicht, nicht einmal ein Supermarkt oder Ähnliches. Und keine Menschen auf der Straße, die man fragen könnte.
Doch dann ein Lichtblick: in einem winzigen Dorf ein kleines Fleischereifachgeschäft. Wir gehen hinein. Und wir sorgen, genauer gesagt, »sie« sorgt beinahe für einen Ohnmachtsanfall. »Erich, Erich«, ruft die Metzgersfrau nach hinten, »Cornelia Froboess ist bei uns im Laden.« Die aufgeregte Dame verfällt in Schnappatmung. Man hat regelrecht Angst um sie. Aber sie beruhigt sich wieder und bereitet uns mit zitternder Hand die georderten Mettbrötchen zu. Gerettet! Donnerwetter, denke ich bei mir, die Froboess ist wirklich ein echter Star: Geht übers flache Land, kehrt dick eingemummelt in ein Geschäft ein, und gleich erkennt man sie – und das in Deutschlands Osten, wobei sie doch eigentlich ein Kind des Westens ist.
Wie kam es dazu, dass sie, die ständig in der Öffentlichkeit stehende Künstlerin, und ich, ein meist in seiner »Studierstube« hockender Musikwissenschaftler und Schriftsteller, gemeinsam querfeldein im Nirgendwo marschieren? Die Antwort erfordert einen kurzen Blick zurück.
Wenige Jahre nach dem Mauerfall, im September1993, gründet sich in Dessau die Kurt-Weill-Gesellschaft. Sie folgt dem Ziel, das Gedenken an den Komponisten »in seiner Geburtsstadt auf jede geeignete Weise zu erhalten«. Zur erfolgreichen Bilanz des Vereins gehört es, den Neubau einer Synagoge vorangetrieben zu haben, die im Oktober2023 eröffnet wird – in der Nähe ihrer Vorgängerin, an der Weills Vater bis1920 als Kantor gewirkt hat.
Ein weiteres Verdienst der Gesellschaft ist es, das alljährliche Kurt-Weill-Fest auf den Weg gebracht zu haben und es jedes Jahr neu zu erfinden. Als im Jahr2009 der Kulturmanager Professor Michael Kaufmann die Intendanz des Festivals übernimmt, sorgt er für einen Modernisierungsschub. Die Programmhefte erhalten ein neues Gesicht. Auch entwickelt er ein ergänzendes Format,Entdeckungen genannt, Brückenkopfveranstaltungen, die auf die kommenden Konzerte, Filmvorführungen, Theaterabende und Lesungen vorbereiten sollen. Schließlich bittet er mich, das Schreiben der Programmhefttexte zu übernehmen – eine Aufgabe, der ich mich gemeinsam mit meiner Frau Carola und ausgesuchten Studierenden stelle. Zudem organisiere ich dieEntdeckungen, die aus Kurzvorträgen und Konzerten bestehen.
Überhaupt tauschen Kaufmann und ich uns damals intensiv über die Möglichkeiten des Kurt-Weill-Festes aus. Im Spätsommer2014 erhalte ich einen Anruf von ihm. Nicht ohne Stolz berichtet er, Cornelia Froboess für2015 als Artist in Residence gewonnen zu haben. Ob ich ihr nicht für eines der vier angedachten Programme eine Art Drehbuch schreiben wolle.
Da ich dergleichen immer gern gemacht habe, etwa für Paul Kuhn oder Katharina Thalbach, sage ich spontan zu. Das »Drehbuch«, so Kaufmanns Wunsch, muss Texte von zwei Dessauer Künstlern umfassen: von Kurt Weill natürlich und von Wilhelm Müller, dem Dichter derWinterreise. Beiträge von Ernst Krenek sollen das Programm ergänzen – einerseits, weil der österreichische Komponist einen Liederzyklus geschrieben hat, dasReisebuch, in dem man ein Nachfolgemodell der Müller-Schubert’schenWinterreise sehen kann; andererseits, weil Kaufmann den Zeitgenossen Krenek und Weill das Dessauer Fest2016 widmen will. Die ausgewählten Texte und die entsprechenden Moderationen sollen musikalisch durch den renommierten Jazzbassisten Dieter Ilg grundiert werden.
Mit einem derartigen Programm entspreche Cornelia Froboess nicht nur dem Generalthema des aktuellen Kurt-Weill-FestesVom Lied zum Song, äußert sich Michael Kaufmann bei einer Pressekonferenz, vielmehr fungiere sie auch als ideale Botschafterin für den Komponisten: Wie Weill habe sie die Verbindung, das Neben- und Miteinander von U