Teil I
1
Herbst, vor fünfzehn Jahren
Anna holte zitternd Luft, um den Presslufthammer in ihrer Brust zu beruhigen, während ihre Professorin vorn auf dem Podium eine Liste mit Namen herunterrasselte. Der Typ, der rechts neben ihr saß, warf einen vorwurfsvollen Blick auf ihren abgelaufenen Sneaker, mit dem sie nervös auf den Boden tippte, und Anna presste eine Hand auf ihr Bein, um es ruhig zu halten.
Die Person, deren Namen ihre Professorin gleich aufrufen würde, hatte keine Ahnung, dass Annas Zukunft von ihr abhing. Anna war eine von nur einer Handvoll Highschool-Schülern, die sich für dieses kostenlose Collegeprogramm qualifiziert hatten, und dieses Projekt war ihre Chance auf ein Stipendium, auf ein Leben, in dem sie nicht ständig hinter sich schauen müsste.
Das scharfe Rascheln von Papier in Dr. McGoverns Hand hallte durch den Hörsaal, während ihr Finger über die Liste fuhr, bis sie plötzlich innehielt.
Anna umklammerte den Saum ihres Secondhand-T-Shirts, wartete gespannt auf den Namen ihres neuen Projektpartners.
»Gabriel Weatherall.«
Sofort huschte Annas Blick durch den Raum zu dem hochgewachsenen, dunkelhaarigen Typen, der auf seinem Stuhl herumlungerte und lässig einen Stift zwischen den Fingern drehte.
Er nickte ihr kurz zu und wandte den Blick wieder ab. Keine Sekunde später schnellte sein Kopf zurück, und er starrte sie mit offenem Mund an, eine verzögerte, beinahe komisch wirkende Reaktion.
Zumindest wäre es komisch gewesen, wenn nicht ihr ganzes Leben auf dem Spiel stünde.
Anna zwang sich, ihm ein freundliches Lächeln zuzuwerfen.
Als er verächtlich die Augenbrauen hob und die Lippen kräuselte, hatte Anna das Gefühl, ihr Stipendium würde in weite Ferne rücken.
Dr. McGovern teilte die restlichen Studenten auf ihrer Liste in Zweiergruppen ein und begann dann mit der Vorlesung, aber Anna bekam kein Wort davon mit. Sie stützte den Ellenbogen auf den Tisch und ließ ihre braunen Haare vors Gesicht fallen, als würde sie die Spitzen nach Spliss absuchen. Möglichst unauffällig schielte sie an ihrem langen Pony vorbei auf Gabes dichtes schwarzes Haar, sein T-Shirt mit dem Logo seiner Studentenverbindung und seine Arme, die er selbstbewusst vor der breiten Brust verschränkte. Die Hälfte der Mädchen im Kurs würde dafür töten, in den nächsten zwei Semestern mit Gabe zusammenzuarbeiten, aber Anna wäre jeder andere lieber gewesen.
Das hier war schon ihr zweiter Kurs mit ihm, aber sie existierte für ihn gar nicht. Sie dagegen wusste ganz genau, wer Gabe war – der Inbegriff von jemandem, der es im Leben leicht hatte. So, wie er sich bewegte und redete, war Entbehrung für ihn ein Fremdwort. Vermutlich hatten seine Eltern ihm vom Tag seiner Geburt an vermittelt, dass er schlau und etwas Besonderes sei. Sein gesamtes Auftreten spiegelte das wider, die Art, wie er sich in eine Diskussion mit einem Professor stürzte, oder sein Umgang mit den Verbindungsstudentinnen, die sich um ihn scharten und denen er gerade genug Aufmerksamkeit schenkte, um sie bei der Stange zu halten – aber nie genug, um seine Möglichkeiten einzuschränken.
Okay, Gabewar schlau, und mehr als einmal hatte sie ihm insgeheim zugestimmt, wenn er im Kurs einen Standpunkt vertrat. Aber er war zu attraktiv, zu arrogant und zu unbeherrscht. Anna brauchte einen Partner, der sich auf den Hosenboden setzte, keine Aufmerksamkeit auf sich zog und wie besessen arbeitete. Oder noch besser, der sich im Hintergrund hielt und sie die Führung übernehmen ließ. Gabe Weatherall würde nichts von alledem tun.
Nach dem Kurs schlenderte Gabe, umringt von den Leuten, mit denen er immer abhing, in Richtung Tür, ohne Anna auch nur eines Blickes zu würdigen