In andere Häute schlüpfen:
Empathie in der Literatur
Patricia Highsmith (1921–1995) hatte ein feines Gespür für Grausamkeiten. In ihrer 1962 erschienenen Kurzgeschichte „The Terrapin“ nimmt sie sich exemplarisch zweier Gruppen an, mit denen oft gedankenlos umgesprungen wird: Kinder und Tiere.
„Terrapin“ bezeichnet verschiedene Arten von Sumpfschildkröten, die in Nordamerika heimisch sind und bis vor wenigen Jahren im europäischen Zoohandel als Babys verkauft wurden, wie Rotwangen- oder Gelbwangen-Schmuckschildkröten. Da sie bis zu dreißig Zentimeter groß werden können und dann nicht mehr gut in ein praktisches kleines Aquaterrarium passen, wurden sie oft im nächstliegenden Gewässer ausgesetzt. Dort verdrängten sie die heimische Europäische Sumpfschildkröte, sodass sie in der EU mittlerweile auf der Liste invasiver Arten stehen und nicht mehr importiert, gezüchtet oder verkauft werden dürfen.
Highsmiths Schildkrötengeschichte wird aus der Perspektive eines elfjährigen Jungen namens Victor erzählt, der mit seiner Mutter in einem winzigen Apartment in New York lebt. In wenigen kräftigen Pinselstrichen wird das angespannte Verhältnis zu ihr skizziert. Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, versteckt Victor schnell das Buch, das er gelesen hat, unter dem Sofakissen – er holt sich gerne Werke über Psychologie aus der öffentlichen Bücherei, aber seine Mutter verbietet ihm diese Lektüre. Obwohl es Oktober ist, muss er kurze Hosen tragen, da sie, eine Ungarisch-Französin, ihn „französisch“ aussehen lassen will. Er wird aufgefordert, ihre aller Wahrscheinlichkeit nach unverkäuflichen Kinderbuchillustrationen zu kommentieren, und als er darüber zu gleichgültig wirkt, als psychisch krank und zurückgeblieben beschimpft. Sie erwartet eine Freundin zu Besuch und er soll für diese ein Gedicht zur Rezitation vorbereiten. Über die Auswahl desselben kommt es zu einer Auseinandersetzung, die für Victor mit einer Ohrfeige endet.
Die Mutter geht ins Bad, um sich die Haare zu waschen, der Junge in die Küche. Da hört er aus den dort abgestellten Einkaufstaschen ein kratzendes Geräusch. In einer Kartonschachtel findet er eine lebende Schildkröte und in Sekundenschnelle ist seine Welt völlig verwandelt: Die Mutter hat ihm ein Haustier als Geschenk mitgebracht! Warum hat sie denn nichts davon gesagt?
Freudig hüpft er zur Badezimmertür, um sie nach der Schildkröte zu fragen. Doch die Antwort ist niederschmetternd: „C’est une terrapène! Pour un ragoût!“ Französisch spricht die Mutter, wenn sie keinen Widerspruch duldet. Darüber hinaus ist Französisch die Sprache der Haute Cuisine, die mit nonchalant verschliffenen Nasalen noch jede kulinarische Grausamkeit veredelt: „Gänsestopfleber“ klingt wenig appetitlich, „foie gras“ jedoch deliziös. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, lässt uns ebenso wie dem Jungen das hier angekündigte „ragoût“ weniger das Wasser im Mund zusammen- als kalte Schauer über den Rücken laufen.
Obwohl er weiß, dass er nur wenig Zeit mit ihr hat, beschäftigt sich Victor mit der Schildkröte. Er versucht, sie zu füttern, setzt sie in eine Wasserschale, lässt sie im Wohnzimmer frei herumlaufen – die Bindung wächst ebenso wie das Interesse an ihrer natürlichen Lebensweise. Schließlich sieht er im Wörterbuch unter „terrapin“ nach:
He learned nothing except that the name was of Algonquian origin, that the terrapin lived in fresh or brackish water, and that it was edible. Edible. Well, that was bad luck, Victor thought. But he was not going to eat any terrapène tonight. It would be all for his mother, that ragout, and even if she slapped him and made him learn an extra two or three poems, he would not eat any terrapin tonight.
Als die Mutter schließlich mit gewaschenen Haaren erscheint, nimmt sie ihm die Schildkröte wieder ab, setzt sie in die Schachtel zurück und stellt diese in den Kühlschrank. Der Besuch kommt, das Gedicht wird rezitiert, der Tag vergeht. Victor träumt davon, noch länger mit der Schildkröte spielen zu können, vielleicht sogar mit ihr hinauszugehen, um sie einem anderen Jungen zu zeigen. Doch kaum hat sich die Freundin verabschiedet, stellt die Mutter einen Topf mit Wasser auf den Herd.
Victor watched his mother lift the terrapin from the box, and as she dropped it into the boiling water, his mouth fell open. ‘Mama!’
‘What is this? What is this noise?’
Victor, open-mouthed, stared at the terrapin whose legs were now racing against the steep sides of the pot. The terrapin’s mouth opened, its eyes looked directly at Victor for an instant, its head arched back in torture, the open mouth sank beneath the seething water – and that was the end.
Die Mutter erklärt dem entsetzten Kind, dass ein solcher Tod dem Tier nichts ausmache, wie Hummer verspürten Schildkröten keinen Schmerz. Doch für Victor ist die Sache klar, die Schildkröte hätte nicht so verzweifelt versucht, aus dem Topf hinauszuklettern, hätte sie nicht gelitten. Er beobachtet die Mutter dabei, wie sie die kleinen Krallen des Tieres abschneidet, den Bauchpanzer öffnet, es ausweidet, in Stücke schneidet, mit Sherry und Eigelb schmort. Es wäre nicht Highsmith, würde die Sache nicht äußerst schlecht für die Köchin ausgehen.
Literatur ist eine Übung in Empathie. Man kann sich in andere Menschen hineinversetzen, und ja, auch in Tiere. Highsmith zieht in dieser Geschichte den Leser in einen doppelten Perspektivwechsel hinein, wir schlüpfen in die Haut des Jungen, der in die Haut der Schildkröte schlüpft. Der Kontrast zwischen der Mutter, die den „normalen“ Standpunkt vertritt, der darin besteht, ein lebendes Tier als eine Art Kartoffel anzusehen, und dem des Kindes, für das die Schildkröte nicht nur ein Spielkamerad, sondern auch ein äußerst