Zeitenwende –
Sind wir noch die Guten?
Es war der 27. Februar 2022, als Bundeskanzler Olaf Scholz ans Rednerpult des Deutschen Bundestags trat. Mit offenem Mund verfolgten viele Abgeordnete und auch viele Zuschauer im Fernsehen das, was der Kanzler quasi im Alleingang verkündete: die »Zeitenwende«.
»Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage«, erklärte der Kanzler in einem für ihn ungewohnt harten Tonfall. »Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.«
Niemand, auch ich nicht, ahnte an jenem Tag, wie tief die Zeitenwende in das Leben jedes Einzelnen in Deutschland eingreifen würde. Dabei stand der Sinn den meisten Menschen nach ganz anderen Dingen. Gerade erst war die große Krise überwunden, die Corona-Pandemie. Ein »normales« Leben schien wieder in Sicht, mit einem Alltag ohne Beschränkungen oder große politische Sorgen. Es kam anders.
Olaf Scholz: »Ich weiß genau, welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg. Viele von uns haben noch die Erzählungen unserer Eltern oder Großeltern im Ohr vom Krieg, und für die Jüngeren ist es kaum fassbar: Krieg in Europa. Wir erleben eine Zeitenwende.«
Die deutsche, die europäische Politik vollzog die Zeitenwende. Politikerinnen und Politiker der Grünen, früher dem Frieden, der Abrüstung, dem strikten Verbot von Rüstungsexporten in Spannungs- oder gar Kriegsgebiete verpflichtet, forderten nun fast schrankenlose Waffenlieferungen in die Ukraine. An vorderster Front stand Anton Hofreiter, eigentlich Agrarpolitiker. Als Scholz später zögerte, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu überlassen, nannte Hofreiter es »ein großes Problem«, ständig »monatelang über ein Waffensystem zu diskutieren, um es dann zu spät zu liefern«. Man solle »Entschlossenheit« zeigen.
Die Zeitenwende teilte die Welt in zwei Hälften: Wir sind die Guten, Putin ist der Böse. Die Folgen waren zeitweise enorm gestiegene Strom- und Gaspreise, die deutsche Wirtschaft wurde zur Leidtragenden. Ukrainische Flüchtlinge wurden in vielen Kommunen zur Belastung, fast überall in Europa erstarken rechte Parteien. Die erste Quittung in Deutschland kam zur Europawahl 2024. Die Konservativen erstarkten, die Grünen stürzten ab, und die AfD, die der Verfassungsschutz als rechtsextremistischen Verdachtsfall führt, legte allen Skandalen zum Trotz um fast fünf Prozentpunkte auf rund 16 Prozent zu.
Die Konfrontation der Blöcke ist wieder da. Zu Zeiten des Kalten Krieges standen sich Ost und West unversöhnlich gegenüber: auf der einen Seite die Sowjetunion und ihre Verbündeten, die Staaten des »Warschauer Vertrages«. Und auf der anderen die USA und die NATO. Russland schafft heute mit der Achse zu China und anderen Ländern eine »multipolare Welt« gegen die Vormachtstellung der USA. Europa wird dabei an den Rand gedrängt. Das ist für die Europäer nicht schön, vor allem aber ist es eine Situation, in der Arroganz mehr denn je fehl am Platz wäre. Wir sind nicht per se die Guten oder gar die Besseren. Wir sind Teil einer neuen Weltordnung, in der andere Staaten bedeutender werden, vor allem die Länder des Globalen Südens. Wir dominieren nicht wirtschaftlich und schon gar nicht militärisch. Diplomatisch zwingt das zur Suche nach Kompromissen und Konsens – in ferner Zukunft vielleicht auch mit Russland.
Aber wann begann die Zeitenwende? Mit der Invasion Russlands in der Ukraine, die ich, wie die meisten Menschen, verurteile?
Ich denke, sie begann viel früher, mit dem Zerfall der Sowjetunion. Deren Existenz endete am 26. Dezember 1991. Die Menschen in Ost und West feierten das Ende des Kalten Krieges, das Ende der Konfrontation der Blöcke; das Gespenst des Atomkrieges schien gebannt. So dachten wir. In Wirklichkeit existierten all die Probleme weiter, die zum Ruin der Weltmacht geführt hatten. Wir nahmen sie nur nicht mehr wahr.
Neue Nationalstaaten entstanden. Zum Teil waren die Grenzziehungen willkürlich, nicht immer verliefen sie entlang ethnischer Trennlinien. Länder, die zum Warschauer Pakt gehörten, dem sowjetischen Hinterhof, agierten nun selbstständig. Manche Re