: Abel Quentin
: Der Seher von Étampes Roman
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751809740
: 1
: CHF 17.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 350
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jean Roscoff versteht die Welt nicht mehr. Eigentlich wollte er mit seinem Buch Der Seher von Étampes eine Hommage auf einen unbekannten afroamerikanischen Dichter schreiben, stattdessen hat er den größten Literaturskandal in der jüngeren Geschichte Frankreichs ausgelöst. Im Internet wütet ein heftiger Shitstorm, Presse und Rundfunk machen dem pensionierten Akademiker mit Hang zu Alkohol, Nostalgie und Fettnäpfchen öffentlich den Prozess. Der Vorwurf: kulturelle Aneignung. Denn seit Roscoff in den 1980er-Jahren als löwenmähniger Postpunk auf die Straße ging, haben sich die ideologischen Koordinaten des linken Antirassismus verschoben. Was einst progressiv war, gilt heute als reaktionär. Wie ein Seismograf für gesellschaftliche Erdbeben verzeichnet Abel Quentin die neuesten Verwerfungen im unwegsamen Terrain der Moral. Mit satirischem Scharfsinn seziert er die Dynamiken des digitalen Meinungskampfes und entwirft ein bissiges Porträt der Medienwelt. Vor allem aber nimmt er seine Figuren beim Wort, folgt ihnen durch ihre höchst unterschiedlichen Milieus und interessiert sich - immer scharfzüngig, nie gnadenlos - für ihr Hadern mit der Welt, den anderen und sich selbst.

Abel Quentin, 1985 in Lyon geboren, arbeitet als Strafverteidiger in Paris und debütierte als Schriftsteller mit einem politischen Thriller über die islamistische Radikalisierung. S?ur, so der Titel, wurde für den Prix Goncourt nominiert, war Finalist des Goncourt des lycéens und erhielt Prix Première. Für seinen zweiten Roman Le voyant d'Étampes erhielt er den Prix Maison rouge und den Prix de Flore

»›Wir sind alle Einwandererkinder‹ … Was soll das bitte heißen?! Glauben Sie wirklich, dass Sie auch nur einen Bruchteil von dem empfinden können, was eine migrantisierte Person empfindet? Finden Sie nicht, dass es allerhöchste Zeit ist, die ›Einwandererkinder‹ selbst sprechen zu lassen? Endlich damit aufzuhören, ihnen die Stimme wegzunehmen?«

Jeanne, die neue Freundin meiner Tochter, sah mich streng und schmallippig an. Sie erinnerte mich an eine Puritanerin aus dem Iowa des neunzehnten Jahrhunderts. Infolge andauernden Leidens war ihre Kiefermuskulatur angespannt.

Es war zwanzig Uhr und der Abend stand unter keinem guten Stern. Als ich eine Suze bestellen wollte, hatte mich der Kellner nur fragend angeschaut: Offensichtlich war ihm so etwas noch nie zu Ohren gekommen. So hatte ich mich mit einem Cocktail auf Gurkenbasis begnügen müssen, an dessen Oberfläche vereinzelte Sesamkörner dümpelten. »Sieht aus wie Zwergmausköttel«, hatte ich gewitzelt, um die Atmosphäre etwas aufzulockern, leider ohne Erfolg.

Am Tisch herrschte klebrige Spannung – innerha