ERSTER TEIL – KAPITEL 1
Treppen sind gefährlich. Sie töten mehr Menschen pro Jahr, als Victor in zehn Leben. Wenn eine Person durch einen Unfall in ihrem Haus stirbt, ist es mit großer Wahrscheinlichkeit die Treppe, die sie tötet. Doch obwohl Victor schon lange im Geschäft tätig war, hatte er noch nie ein Ziel ermordet, indem er es die Treppe hinuntergestoßen hatte. Aktuell wartete diese Methode also auf ihre Premiere. Die Treppe vor ihm war gefährlicher als die meisten anderen. Nicht wegen der Möglichkeit eines Sturzes. Sondern wegen der Angreifbarkeit, der er sich aussetzte.
Wenn seine Feinde etwas taugten, würde mindestens einer von ihnen sie bewachen.
Die erste Treppe stieg nur zehn Stufen an und endete im Flur eines Zwischengeschosses, der in zwei Richtungen verlief. Eine längere Treppe war parallel zur ersten, bis zu einem kahlen Treppenabsatz, von dem aus man in das nächste Stockwerk gelangen konnte. Victor beugte sich über das Geländer, um einen Blick nach oben zu werfen – waghalsig in dem Fall, dass ein Angreifer von einem höheren Stockwerk aus nach unten zielte.
Niemand zu sehen.
Nur Treppen und Geländer, die nach oben führten und sich bis zu einem Punkt jenseits der obersten Decke erstreckten.
All diese Treppen waren darauf ausgelegt, dass sie von vielen Menschen gleichzeitig benutzt werden konnten. Breite Stufen – fast zwei Meter von der Wand bis zum Geländer, dessen Eisen unter einer dicken Schicht aus grünem Lack lag. Auf der rechten Seite, zum Geländer hin, waren die vormals harten Kanten der Stufen abgerundet. Die Sohlen hunderter Menschen hatten sie Tag für Tag abgeschliffen.
An dieser Stelle, nahe am Geländer, stieg Victor hinauf. Er wusste, dass die stärkere Erosion des Steins eine rauere Oberfläche und somit eine verstärkte Absorption der Energie seiner Schritte bedeutete. Für ihn war das eine unmerkliche Geräuschminderung. Doch ein Schütze im Stockwerk darüber könnte Victors Position allein aufgrund des geminderten Geräuschs weniger genau einschätzen und seinen Angriff eine Sekunde später bemerken, als er es sonst getan hätte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass eine einzige Sekunde über Leben und Tod entscheiden konnte.
Er stieg langsam und bedächtig eine Stufe nach der anderen hinauf, denn er wusste, dass jeder, der im Gang vor ihm lauerte, jedes leise Klopfen seiner Sohlen auf den Steinstufen hören und erahnen würde, dass er immer näherkam. Der Korridor, der sich sowohl nach links als auch nach rechts erstreckte, bot zwei mögliche Positionen für einen Hinterhalt. Allerdings konnten sie nicht gleichzeitig genutzt werden. Schützen in beiden Gängen könnten sich gegenseitig töten, wenn sie beide auf einen Feind feuerten, der zwischen ihnen auftauchte.
Wenn es einen Angreifer gab, dann würde er sich im Flur rechts von Victor befinden. Dieser Flur bot einem Schützen eine größere Chance, das Ziel von hinten zu erwischen, während es die nächste Treppe hinaufging. Ein Schütze, der sich im linken Gang aufhielt, gab sich einem Duell preis, von Angesicht zu Angesicht, und Attentäter waren nicht gerade dafür bekannt, fair zu spielen.
Sie waren auch nicht für ihre schlechte taktische Positionierung bekannt. Sie würden nicht mitten im Flur stehen, so ungeschützt und verwundbar wie an dem Tag ihrer Geburt. Sie würden nahe an einer Wand stehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Schütze Rechtshänder ist, liegt bei neun zu zehn, und ein Rechtshänder wird seine linke Schulter in der Nähe einer Wand haben wollen, damit seine Waffe nicht dadurch behindert wird. Die Wände im Treppenhaus hatten alle einen zweifarbigen Anstrich. Das untere Drittel hatte ein künstlich verwaschenes Grün, während die oberen zwei Drittel in einem warmen Beigeton gehalten waren.
Als Victor die achte der zehn Stufen erreichte, hielt er inne und unterbrach den Rhythmus seiner Schritte – gerade lange genug, um das Abschätzen seiner Bewegung und Position durch einen potenziellen Angreifer zu erschweren –, bevor er die Waffe in die linke Hand nahm und die letzten beiden Stufen in einem Satz hochsprang, wobei er sich auf die Höhe des grünen Wandteils duckte und um die Ecke lugte, um den rechten Gang hinuntersehen zu können.
Der erste Feind versteckte sich dort, wo Victor ihn erwartet hatte.
Die Reaktion ist immer langsamer als die Aktion, also hatte Victor den Sekundenbruchteil Vorsprung, den er brauchte, um sein Ziel zu finden, denn der Bewaffnete hatte Deckung im Türrahmen zu einem Nebenraum bezogen. Der größte Teil seiner Person war außer Sichtweite, nur sein Kopf, seine Arme und seine Schulter waren durch die Türöffnung zu sehen.
Sie schossen gleichzeitig, wobei der Schütze durch das plötzliche Auftauchen von Victor überrascht wurde und bloß einen panischen Schuss ins obere Drittel der Wand abfeuerte.