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Zwei Monate zuvor
Kassandra lehnte sich zurück und hielt die Augen geschlossen. Alles um sie herum nahm sie mit anderen Sinnen wahr: die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings auf ihrer Haut, die leichte Brise in ihren Haaren, das Plätschern der Wellen um den Bootsrumpf, hin und wieder einen Wasserspritzer auf ihren Armen, den Geruch des Holzes, der Taue und der Segel. Es war wunderbar, auf dem Bodden dahinzugleiten, sich treiben und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Nur sie und Paul – und der Skipper.
Der störte sie nicht. Kassandras Nachbar Jonas Zepplin hatte ihnen diese Sonderfahrt auf seinem Zeesboot Tante Mine schon zu Weihnachten geschenkt, und jetzt zur Saisoneröffnung lösten sie das Geschenk ein. Kassandra genoss die Stille in der Natur und das Nichtstun. Bald genug würde sich das ändern, wenn aus den hin und wieder anreisenden Urlaubern, die die Zimmer ihrer Pension »Woll tau seihn« in dieser Jahreszeit bewohnten, Ströme von Menschen wurden, die sich ohne einen Tag Pause bei ihr abwechselten. Sie mochte den Trubel, aber diese Ruhe auf dem Bodden war etwas ganz Besonderes.
Kassandra hatte keine Ahnung, wo sie gerade unterwegs waren, und wollte eben träge die Augen öffnen, als in unmittelbarer Nähe Glocken erklangen. Sie setzte sich auf und blinzelte hinüber zur Fischländer Kirche. Die Turmuhr zeigte drei, sie waren schon fast zwei Stunden unterwegs. Wie schnell die Zeit verging. Ein Seitenblick zu Paul verriet ihr, dass das Geläut ihn anscheinend auch aus seiner kontemplativen Stimmung gerissen hatte.
Jonas schmunzelte. »Wach?« Dann deutete er zum Ufer, an dem nun nach Hafen und Kirche die Stinne in Sicht kam – das Schiff mit den zwei Masten, dem schwarzen Rumpf und dem weißen Aufbau, das seit Jahrzehnten dort friedlich auf dem Trockenen lag. Seit einiger Zeit war es auf der Stinne und um sie herum weniger friedlich. Baulärm tönte herüber. Nicht zu laut, aber auch nicht zu überhören.
»Du weißt doch immer alles, Herr Gemeindevertreter«, wandte Jonas sich an Paul. »Wie weit ist es denn gediehen?«
Paul lachte. »In dem Fall muss ich dich enttäuschen. Ich weiß nicht mehr als das, was in der Zeitung steht. Allerdings kennen wir eine Person, die sehr wahrscheinlich bald viel besser informiert sein dürfte.«
»Ob wir was davon haben, ist eine andere Frage«, schaltete sich Kassandra ein. »Violetta wurde zu strengstem Stillschweigen verdonnert.«
»Violetta und Schweigen?«, fragte Jonas ungläubig, während er das Segel reffte. »Nicht euer Ernst.«
»Sei nicht ungerecht«, sagte Kassandra. »Violetta mag ja beim Reden weder Punkte noch Kommata kennen, eine Klatschtante ist sie trotzdem nicht.«
»Meinetwegen. Aber wie kommt ihr darauf, dass sie mehr erfahren könnte als Paul?«
»Wegen des Fischländer Lesezirkels, den sie vor ein paar Jahren gegründet hat«, erklärte Kassandra. Sie amüsierte sich über Jonas’ noch ratloseren Blick und beschloss, ihn aufzuklären. »Neulich war Violetta zum Kaffee bei uns«, begann sie.
»Das ist besser gesichert als Fort Knox, kann ich euch sagen, echt unglaublich, nicht mal mir verrät sie, was für Tricks und Finessen da eingebaut werden, obwohl sie doch so viel Wert darauf legt, mit mir zusammenzuarbeiten, muss man sich mal vorstellen, mit mir, ist doch der Wahnsinn, oder?« Violetta brauchte eine kleine Pause zum