: Ernst Geiger
: Mordsmann
: Edition A
: 9783990017197
: 1
: CHF 13.50
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Serienmörder, der Medien und Publikum bis heute fesselt. Ein True-Crime-Thriller, der die Seelen eines Killers und seines Jägers ausleuchtet. Ein Autor, der selbst Chefermittler in diesem spektakulärsten österreichischen Kriminalfall war: Ernst Geiger verarbeitete 30 Jahre nach Jack Unterwegers Tod dessen Geschichte literarisch. Sein Roman lässt mit dramatischen Wendungen und faszinierenden Charakteren fast vergessen, dass er auf wahren Begebenheiten basiert. Er erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich nicht ändern konnte. Und von jenen, deren Leben durch ihn fu?r immer verändert worden sind.

Ernst Geiger leitete bis 2017 die Abteilung 3 des österreichischen Bundeskriminalamtes, zuständig fu?r Ermittlungen in den Bereichen Organisierte und Allgemeine Kriminalität. Er war Chef-Ermittler in vielen aufsehenerregenden Mordfällen. Er leitete die Ermittlungen gegen den Serienmörder Jack Unterweger und fasste den Dieb der Saliera, eines wertvollen Salzfasses des Kunsthistorischen Museums.

1990


Freitag, 12. Oktober, 15:00 Uhr


Nestroy-Gymnasium, Hütteldorf, Wien

Sie erkannte den blauen Mercedes sofort. Er parkte an einer Ecke, von der aus man den Eingang des Schultores im Blick behalten konnte. Kaum war sie vom Schulhof auf die Straße getreten, öffnete sich die Hintertür und ein Deutscher Schäferhund sprang heraus. Die Zunge schlingerte ihm um das Kinn, als er auf sie zugestürmt kam.

Katharina ging in die Knie, ließ die Schultasche neben sich auf den Boden sinken und streckte die Arme aus. Sie hatte sich immer einen Hund gewünscht. In den paar Tagen, in denen sie auf Joy aufgepasst hatte, war ihr die Hündin ans Herz gewachsen. Dennoch verspürte sie jedes Mal, wenn die Hündin auf sie zustürmte, ein Zucken in ihrer Magengrube. Kurz bevor Joy in ihre Arme sprang, sah Katharina die scharfen Zähne aufblitzen. Sie konnte nicht völlig verdrängen, dass die Zutraulichkeit der Hündin innerhalb von Sekunden in Aggressivität umschlagen konnte.

Sie fühlte das weiche Fell der Hündin an ihrer Wange und schloss die Augen, als ihr Joys Zunge über das Gesicht fuhr. Katharina lachte und tätschelte Joy den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, stand er über ihr und lächelte sie an.

Sie streichelte die Hündin noch ein wenig, dann erhob sie sich. »Mein Vater hat verboten, dass du mit mir sprichst«, sagte sie.

»Dabei habe ich mich noch gar nicht richtig dafür bedankt, dass ihr euch um meinen Hund gekümmert habt«, sagte er. Er trug eine ausgebleichte Jeans, braune Cowboystiefel, ein pinkes Hemd und darüber eine weiße Lederjacke. Seine Outfits amüsierten sie.

»Den Hund kannst du jederzeit bei uns lassen.«

Jack lachte. »Ich weiß. Weil deine Mutter mich mag, egal, was dein Vater sagt.«

»Red nicht so daher«, sagte Katharina, musste nun aber auch grinsen.

Vor einigen Wochen war sie mit ihrer Mutter spazieren gewesen, als ein riesiger Deutscher Schäferhund plötzlich aus dem Gebüsch gesprungen kam. Kein Besitzer war zu sehen. Joy hatte sofort Vertrauen zu Katharina gefasst und sich von ihr nach Hause mitnehmen lassen. Dort konnten ihre Mutter und sie ausfindig machen, wem der Hund gehörte: einem Schriftsteller namens Jack Unterweger. Zu dieser Zeit war Unterweger auf der Frankfurter Buchmesse gewesen, um ein Buch vorzustellen, und eine Frau Müller sollte sich um den Hund kümmern. Allerdings war Joy ihr weggelaufen.

Die nächsten Tage blieb Joy bei Katharina. Als Jack sie abholen kam, ging er mit ihrer Mutter und ihr eine Runde spazieren. Er bedankte sich und war ausgesprochen höflich. Was Katharina vor allem gefiel, war, wie erwachsen er sie behandelte. Er schenkte ihr genauso viel Aufmerksamkeit wie ihrer Mutter. Wenn nicht sogar mehr.

»Joy mag dich«, hatte er zu Katharina gesagt.

»Wenn du möchtest, kannst du häufiger mit ihr spazieren gehen.« Katharina hatte glücklich zugestimmt, doch wenige Wochen später war ihr Vater wutentbrannt aus der Arbeit zurückgekommen.

»Weißt du eigentlich, wer der Kerl ist?«, hatte er geschrien. »Das ist ein verurteilter Verbrecher! Ich lasse mein Kind sicher nicht in seine Nähe!«

Jacks Anrufe waren seitdem unbeantwortet geblieben. Das hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, heute vor Katharinas Schule zu warten. Hatte sie ihm je erzählt, wo sie in die Schule ging? Sie konnte sich nicht erinnern.

»Willst du was trinken gehen?«, unterbrach Jack ihre Gedanken. »Ich lade dich ein. Es gibt ein nettes Lokal in der Nähe.«

»Wir können zu Fuß hin?«, fragte Katharina.

»Du musst nicht in mein Auto steigen«, sagte Jack und Katharina fühlte sich ertappt. Sie wusste nicht, warum Jack im Gefängnis gewesen war, ihr Vater hatte es ihr nicht erzählt. Doch sie war klug genug, nicht zu einem verurteilten Kriminellen ins Auto zu steigen.

»Ich lade dich auf einen Kaffee ein. Und wenn du keine Lust mehr hast, gehst du einfach, okay?«, sagte Jack. »Ich zwinge dich zu nichts.«

Katharina nickte. Sie mochte es, dass Jack sie ernst nahm, anders als ihre Eltern. Dass er sich um sie bemühte und sich für sie interessierte. Und sie konnte sich einreden, dass es ihr selbst vor allem um Joy ging.

Jack griff nach ihrer Hand und Katharina fühlte, wie ihre Wangen plötzlich warm wurden.

»Ist dir das nicht zu blöd?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. »Dass dich jeder sofort erkennt.« Sie deutete auf den Mercedes mit dem NummernschildW-JACK 1.

»Sollen sie mich erkennen«, sagte Jack und schnaubte. »Die Gaffer können gar nicht genug von mir kriegen. Aber ich bin ihnen immer einen Schritt voraus.«

Sein Grinsen machte ihn um Jahre jünger. Katharina konnte ihm kein Alter zuordnen, für sie gab es nur junge und alte Menschen und Jack war ganz sicher nicht mehr jung. Doch die Art, wie er sprach und lächelte, die Energie, die seine Augen ausstrahlten, die Impulsivität seiner Handlungen, das alles ließ ihn jugendhaft wirken.

»Mit diesem Wagen bin ich schon durch ganz Österreich gefahren«, erzählte er ihr. »Und sogar über die Grenzen.«

»Du warst schon im Ausland?«, fragte Katharina, die Wien bisher bloß für Tagesausflüge nach Niederösterreich verlassen hatte. »Wo?«

»Überall«, sagte Jack. »In Italien, der Schweiz, in Deutschland. Vor einem Monat war ich in Prag. Warst du schon einmal dort?«

Katharina schüttelte den Kopf.

»Eine wunderschöne Stadt.«

»Warum warst du dort?«, fragte sie.

Jack ließ sich eine Sekunde Zeit mit seiner Antwort.

»Arbeit«, sagte er schließlich. In der kurzen Zeit, die sie Jack nun kannte, und die neben wenigen Spaziergängen vor allem aus langen Telefonaten bestand, hatte sie gelernt, dass er zwei völlig verschiedene Seiten besaß.

Er konnte eine Stunde lang sprechen und von einer Geschichte in die andere stürzen, nur um im nächsten Augenblick einsilbig zu werden und sich zurückzuziehen. Ein Charakterzug, der ihr Interesse weckte.

Joy trottete vor ihnen her, während sie durch die Wiener Innenstadt schlenderten. Es wirkte nicht, als wüsste Jack, wohin er seine Schritte lenkte.

»Hör mal«, sagte er schließlich. »Ich will nicht, dass du einen falschen Eindruck bekommst. Ich war früher ein anderer Mensch, der keine guten Dinge getan hat. Aber ich habe mich im Gefängnis verändert. Die Bücher haben mir geholfen. Ich würde dich gerne weiterhin sehen. Deine Eltern müssen davon nichts wissen. Wenn das für dich in Ordnung geht?«

Er blickte Katharina von der Seite aus an. »Joy würde sich freuen.«

Katharina fühlte, wie sie rot anlief. »Ich freue mich auch, Zeit mit Joy zu verbringen.«

»Nur mit Joy?« Jack machte ein beleidigtes Gesicht, woraufhin Katharina lachen musste.

»Vielleicht nicht nur mit Joy.«

»Du wirst sehen«, sagte Jack, »Joy und ich haben einige Gemeinsamkeiten. Wir wirken vielleicht gefährlich, aber tief drin«, und er schlug sich mit der Faust gegen die Brust, »sind wir liebenswerte Wesen.«

Katharina lehnte ihren Kopf gegen Jacks Schulter. Sie wusste, dass sie ein seltsames Bild abgaben: ein älterer Herr, der auch noch um einige Zentimeter kleiner war als die junge Frau neben ihm. Doch das war ihr in diesem Moment egal. Wie um ihre Gedanken zu bekräftigen, bellte Joy zweimal laut auf.

Montag, 15. Oktober, 18:00 Uhr


Postamt Schallergasse, Schallergasse, Meidling, Wien

»Gut, dass Sie hier sind, Doktor Geiger«, begrüßte mich der WEGA-Einsatzleiter. Trotz seines professionellen Tons war sein Gesicht schweißbedeckt.

»Wir haben drei Tote und zwei Schwerverletzte. Der Tatort ist gesichert.«

»Verstanden«, sagte ich.

Als Leiter des Raubdezernats war ich mit meinem Team kurz nach der WEGA am Tatort eingetroffen und musste mir erst einmal einen Überblick verschaffen.

Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge wurde von den Fenstern zurückgeworfen. Beamte eilten an mir vorbei. An beiden Enden der Gasse hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt, die es zurückzudrängen galt. Das hier war ein Tatort und keine Theaterbühne.

Es war gegen 18 Uhr passiert. Ein Geldtransporter der Post stand vor der Filiale in der Schallergasse. Begleitet wurde er von einem Bezirkspolizisten. Als der Postbeamte und der Polizist mit dem Geld aus der Filiale kamen, schlugen die Räuber zu. Sie sprangen hinter parkenden Autos hervor und eröffneten von beiden Seiten das Feuer.

Der Fahrer des Wagens, der noch hinter dem Steuer saß, wurde ins Herz getroffen und war sofort tot. Der zweite Postbeamte und...