Der Anfang:Henry und der Guru
Oder: Smartseller Zero auf dem Andersweg
»Hey, junger Mann!«
Henry hat keinen Plan, wo er hin muss. Er steht deshalb etwas verloren vor der Universitätsbibliothek und checkt gerade sein Vorlesungsverzeichnis, als er überraschend angesprochen wird.
Um ihn herum wuselt das Leben: Gegenüber ist gerade die letzte Einführungsveranstaltung zu Ende gegangen, Studentinnen und Studenten schlendern über den Platz, andere versuchen noch hastig, den gerade einfahrenden Bus an der Haltestelle am Ende des Areals zu erwischen. Manche lachen, andere unterhalten sich angeregt, nur Henry steht auf seiner kleinen Insel und weiß offensichtlich nicht so recht, was als Nächstes kommt. Ein bisschen peinlich ist das schon.
Wenn er gewusst hätte, dass ihm sein Schicksal heute direkt in den Weg tritt, hätte er sich vielleicht ein anderes T-Shirt angezogen und die Brille besser geputzt. Henry schließt die App im Smartphone und blickt auf.
»Hey, junger Mann! Sympathisch … kompetent und vertrauensvoll! Was macht denn jemand mit solchen Talenten gerade hier?«
Das Schicksal, das ihn so anspricht, ist ein gut aussehender Mann, vielleicht Ende vierzig, mit wenigen, kurzen Haaren, dafür aber braungebrannten, markanten Gesichtszügen – und einer gewinnenden Ausstrahlung, die Henry irgendwie gleich in ihren Bann zieht. Das Lächeln hat an der Insel kurzerhand angelegt und rollt nun einen roten Teppich aus.
»Äh«, stottert Henry, »… hallo?«
Der Mann lächelt ihn mit einem Lächeln an, das so breit ist, als hätte Henry ihm gerade den besten Tag seines Lebens in der Karibik versprochen. Henry kann gar nicht anders, er lächelt zurück.
»Äh, welche Talente meinen Sie jetzt genau?«
Hat sich der Mann tatsächlich gerade ein wenig verbeugt? Jedenfalls lächelt er immer noch weiter, als er etwas theatralisch und mit ausladender Geste eine Karte aus seinem Jackett hervorzaubert. Als könnte man den Auftritt jetzt noch toppen, überreicht er – nein, kredenzt! – Henry mit leuchtenden Augen die Karte.
»Ah …!« Er beugt sich vor und raunt verschwörerisch. »Komm einfach zur Loge der Smartseller! Dort entdecken wir deine Talente gemeinsam – und schauen, was du damit machen kannst. Ruf an, komm vorbei … du wirst schon sehen!«
Dann wirbelt er auch schon weiter, eine Erscheinung für sich.
Henry glotzt ihm noch ein wenig nach.
Er blickt auf die Karte, auf der in geschwungenen Lettern zu lesen ist:
GURU GEE
LOGE DER SMARTSELLER
Es folgt eine Adresse, die sich nach besserer Gegend anhört, und dann noch folgender Spruch:
Entdecke die Philosophie derSmartselling Leadership.
Hier beginnt der ANDERSWEG zum Erfolg.
*
Zwei Tage sind vergangen. Henry hat inzwischen doch noch in jedes seiner Seminare gefunden. Doch keine Begegnung der letzten Tage reichte an diesen Guru Gee heran, das muss Henry ihm lassen. Was für ein Typ! Irgendwie eine ganz eigene Klasse.
Die ominöse Visitenkarte mit den Kontaktdaten von Guru Gee in der Hand sitzt Henry jetzt vor Google Maps und sucht nach der Adresse. Ah, eigentlich gar nicht so weit weg wie gedacht. Und ja, da ist auch die Website vom Guru. Henry weiß zwar immer noch nicht wirklich, was Gee von ihm will – aber ihn interessiert jetzt doch, was die da so machen. Und außerdem hat er morgen vorlesungsfrei und will einfach mal raus aus dem Uni-Alltag. Kann er sich ihn ja mal anschauen, diesen ANDERSWEG.
Henry schnappt sich sein Handy und ruft unter der angegebenen Nummer an. Er sieht mental gleich den lächelnden Guru vor sich und strafft unwillkürlich den Rücken.
Anstelle des Gurus meldet sich aber die freundliche Stimme einer jungen Frau.
»Pastor& Prophet – Smartselling Leadership! Was kann ich für Sie tun?«
Jetzt aber!
»Äh, ja, hier spricht der Henry … Ich soll einen Termin mit dem Guru Gee vereinbaren!«
Na, toll. Das hat er ja mega performt.
Doch die Assistentin antwortet, als lächle auch sie so breit wie der Guru selbst.
»Henry – toll, dass Du anrufst! Ja, ich habe schon gehört, dass Du Dich bald meldest! – Du kannst morgen um 14.00 Uhr vorbeikommen! Passt das?«
Henry ist so perplex, dass er nickt, obwohl ihn die Assistentin gar nicht sieht, und umgehend zusagt.
Am nächsten Tag steht Henry vor der mächtigen Villa aus der Gründerzeit. ›LOGE DER SMARTSELLER‹ prangt in eindrucksvollen Lettern auf einem großen silbernen Schild neben der Einfahrt. Etwas verstohlen sieht sich Henry noch einmal um, aber das scheint hier wirklich alles ganz normal und real zu sein. Diesmal hat sich Henry die Brille geputzt, bevor er den Klingelknopf drückt.
Die schwere Eingangstüre öffnet sich ganz leicht und leise, und eine zierliche junge Dame lächelt ihm entgegen.
»Guru Gee wartet bereits auf Dich«, säuselt sie.
Henry gibt sich große Mühe, jetzt nicht zu stolpern.
Er ist tough!
Die Frau führt Henry über einen Gang in ein großes Arbeitszimmer. An der gegenüberliegenden Wand steht ein langer Schreibtisch, und a