: Vladimir Vertlib
: Die Heimreise
: Residenz Verlag
: 9783701747146
: 1
: CHF 16.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vladimir Vertlib erweist sich erneut als Meister des Erzählens: Linas Roadtrip durch die Sowjetunion ist ein Füllhorn unglaublicher Geschichten. 'Die Heimreise' ist die berührende Hommage des Autors an seine Mutter, eine kämpferische Frau mit unverwüstlichem Humor, und zugleich eine gnadenlose Satire auf die Absurdität der sowjetischen Diktatur in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Lina, eine junge Studentin aus Leningrad, die der Mutter des Autors nachempfunden ist, leistet im Sommer ihren verpflichtenden Arbeitsdienst im fernen Kasachstan, als sie eine Nachricht von zu Hause erreicht. 'Vater schwer krank! Komm rasch!' Mit Hartnäckigkeit, Verzweiflung und wechselnden Weggefährtinnen wird Lina ihre Reise durch das sowjetische Riesenreich antreten, das von absurden Regelungen und willkürlicher Polizeigewalt beherrscht wird. Wird sie rechtzeitig nach Hause kommen, um ihren Vater noch lebend zu seh

VLADIMIR VERTLIB, geboren 1966 in Leningrad. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Er lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderp eis sowie den Anton-Wildgans-Preis. Vertlib schrieb u. a. den Roman 'Lucia Binar und die russische Seele', der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, im Residenz Verlag 'Zebra im Krieg' (2022) und 'Heimreise' (2024).

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Es war kleiner als das Deckblatt eines Personalausweises, hellgrau, schwarz liniert und dünn wie Löschpapier. Die Nachricht war als Streifen aus dem Fernschreiber gekommen, in Teile von passender Länge geschnitten und auf dieses Blatt geklebt worden. Nun war die Schrift verwischt, weil das Telegramm dem Fahrer, der es vom fünfzehn Kilometer weit entfernten Postamt in diesen verlorenen Winkel der Steppe befördert hatte, aus der Hand und auf die vom Regen durchnässte Erde gefallen war. Der Mann, ein korpulenter Kasache in mittleren Jahren, brummte verdrießlich eine Entschuldigung, lehnte sich mit dem Rücken gegen das linke Hinterrad seines Traktors und zündete sich eine Zigarette an. Während er rauchte, versanken seine Stiefel ganz langsam im Schlamm.

Die Nachricht war zwar nass und schmutzig, aber immer noch lesbar. Sie lautete:Vater schwer krank. Komm rasch! Rückreise von Hochschule bewilligt. Mutter.

Ich wurde blass und ließ mich auf die Trittstufe des Traktors fallen, weil es sonst nichts gab, wo ich mich hätte hinsetzen können. »Krank?«, flüsterte ich leise und rief dann laut, nach einer Schrecksekunde: »Aber was? Was hat er? Wieso schreibt sie das nicht?«

»Genau. Was soll das heißen, Lina?« Meine Freundin Olga hatte mir über die Schulter geschaut und mitgelesen.

Ich drehte das Blatt um, schaute auf die Rückseite und hielt es gegen das Licht, als würden si