»Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ein wissenschaftliches Unternehmen, wie es durch den Tod eines Gelehrten wie Maurice Halbwachs unterbrochen wurde, darauf wartet, geradezu danach verlangt, fortgeführt zu werden.« (Pierre Bourdieu)
Diese Worte schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) in seiner HommageDie Ermordung von Maurice Halbwachs (orig. 1987). Inspiriert von dieser Aussage möchte der vorliegende Band einen Beitrag dazu leisten, diesen faszinierenden französischen Gelehrten und politisch interessierten Intellektuellen einem breiteren Lesepublikum bekannt zu machen. Halbwachs hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt und überaus beeindruckende Arbeiten auf dem Gebiet der Sozial – und Kulturwissenschaften hinterlassen. Dennoch war er, mit Ausnahme seiner Studien zum kollektiven Gedächtnis, jahrzehntelang (zumindest im deutschsprachigen Raum) so gut wie vergessen, was umso bemerkenswerter erscheint, als er doch eine große Bandbreite an immer wieder aktuellen Themen in seinem Werk behandelte: von der kollektiven Psychologie zur sozialen Morphologie, von Klassen- und Bedürfnislagen nicht nur im streng soziologischen Sinne, vom Selbstmord zu Fragen der Demografie, von der Stadtsoziologie zu Fragen des Zusammenspiels zwischen Statistik und Soziologie. Besonderes Augenmerk gilt im vorliegenden Band dem Erschließen seiner Ideen, Positionen, Argumente und Texte aus einem wissenssoziologischen Blickwinkel. Eine wichtige Rolle, die Halbwachs während seiner intellektuellen Tätigkeit gekonnt und wie fast kein Zweiter in der damaligen Zeit spielte, ist die des Multiplikators der Arbeiten bedeutender ausländischer Autoren in Frankreich: Max Weber, Werner Sombart, Thorstein Veblen, Robert E. Park, Ernest Burgess und John Maynard Keynes verdanken ihre Rezeption in der französischen Soziologie zu einem nicht geringen Teil den Bemühungen Maurice Halbwachs’ (MONTIGNY 2005: 3).
Maurice Halbwachs führte ein intellektuell reiches Leben, das mit seinem Tod im Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1945 ein überaus tragisches Ende erfuhr. International bekannt wurde er in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hauptsächlich als Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses. Die in der jüngsten Vergangenheit vor allem von den Kulturwissenschaften im deutschen und im englischen Sprachraum vorangetriebene Rezeption der soziologischen Gedächtnistheorie von Halbwachs führte allerdings zur Vernachlässigung seiner anderen Arbeiten. Diesen verkürzten und einseitigen Blick auf Halbwachs korrigiert und ergänzt die vorliegende Einführung mit einer Analyse der Arbeiten zur sozialen Klasse und zu deren Lebensweisen, zur Statistik, zur sozialen Morphologie, zum Zusammenspiel zwischen Soziologie und kollektiver Psychologie und auch zum Selbstmord (Abschnitt VI). Dies geschieht nicht zuletzt, um die Produktivität und Originalität des französischen Denkers in diesen Feldern einführend unter Beweis zu stellen.
Methodisch orientiert sich diese Arbeit an der von Lothar Peter ausgearbeiteten Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung (PETER 2001). Peter unterscheidet systematisch zwischen einer ›sozialen‹ (insti