: Dietmar J. Wetzel
: Maurice Halbwachs
: Herbert von Halem Verlag
: 9783744520690
: Klassiker der Wissenssoziologie
: 2
: CHF 12.60
:
: Soziologie
: German
: 130
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Maurice Halbwachs (1877-1945) gehört - neben Marcel Mauss - zu den wichtigsten Vertretern der französischen Soziologie in der Nachfolge von Émile Durkheim. Halbwachs gilt als der Klassiker der Gedächtnissoziologie. Dietmar J. Wetzel gibt einen systematischen Überblick über die zentralen Werke und Begriffe von Halbwachs und die ihn dabei prägenden Einflüsse. Er zeigt, dass Halbwachs neben seinen breit rezipierten Gedächtnisstudien ein weitgehend unbeachtet gebliebenes Werk hinterlassen hat, das zur Wiederentdeckung einlädt. In seinen Arbeiten zur Soziologie und Sozialpsychologie des Gedächtnisses - am bekanntesten sind 'Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen' und 'Das kollektive Gedächtnis' - gelingt es Halbwachs als erstem empirischen Soziologen der französischen Schule zu zeigen, dass es sich bei Erinnerungen an die Vergangenheit wesentlich um Rekonstruktionen im Lichte der Gegenwart handelt. Neu zu entdeckende Arbeiten sowie Übersetzungen ins Deutsche zeigen jedoch vermehrt, dass das Potenzial einer von Halbwachs intendierten 'Wissenschaft vom Menschen' weit über seine kulturwissenschaftliche Rezeption als Gedächtnisforscher hinausreicht. Halbwachs hat sich mit ganz verschiedenen Themen auseinandergeSetzt, die ihn als 'kompletten Soziologen' ausweisen: Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Soziologie der sozialen Klassen, Stadtsoziologie, Soziologie des Selbstmordes, soziale Morphologie und Statistik.

Prof. Dr. Dietmar J. Wetzel, Professur für Sozialwissenschaften an der MSH Medical School, Hamburg, Dipl. Frankreichwissenschaftler, Co-Leiter des SNF-Projektes 'Transformative Gemeinschaften als innovative Lebensformen?', Universität Basel (2016-2019); Vertretungsprofessor (insb. Lebensführung und Nachhaltigkeit) an der Universität Hamburg im Fachbereich Sozialökonomie (2017-2018): Forschungs- und Lehrschwerpunkte: Soziologische Theorien, Politische Theorie und Ideengeschichte, Makro- und Mikrosoziologie, Gedächtnis- und Resonanzsoziologie, Nachhaltigkeit, Qualitative Sozialforschung. Wichtige Publikationen: Metamorphosen der Macht. Soziologische Erkundungen des Alltags (Norderstedt, BoD 2019), Soziologie des Wettbewerbs - eine kultur- und wirtschaftssoziologische Studie der Marktgesellschaft (Wiesbaden, Springer VS 2013); Perspektiven der Aufklärung - zwischen Mythos und Realität (Hg.) (München, Fink 2012).

I.Einleitung


»Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass ein wissenschaftliches Unternehmen, wie es durch den Tod eines Gelehrten wie Maurice Halbwachs unterbrochen wurde, darauf wartet, geradezu danach verlangt, fortgeführt zu werden.« (Pierre Bourdieu)

Diese Worte schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) in seiner HommageDie Ermordung von Maurice Halbwachs (orig. 1987). Inspiriert von dieser Aussage möchte der vorliegende Band einen Beitrag dazu leisten, diesen faszinierenden französischen Gelehrten und politisch interessierten Intellektuellen einem breiteren Lesepublikum bekannt zu machen. Halbwachs hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt und überaus beeindruckende Arbeiten auf dem Gebiet der Sozial – und Kulturwissenschaften hinterlassen. Dennoch war er, mit Ausnahme seiner Studien zum kollektiven Gedächtnis, jahrzehntelang (zumindest im deutschsprachigen Raum) so gut wie vergessen, was umso bemerkenswerter erscheint, als er doch eine große Bandbreite an immer wieder aktuellen Themen in seinem Werk behandelte: von der kollektiven Psychologie zur sozialen Morphologie, von Klassen- und Bedürfnislagen nicht nur im streng soziologischen Sinne, vom Selbstmord zu Fragen der Demografie, von der Stadtsoziologie zu Fragen des Zusammenspiels zwischen Statistik und Soziologie. Besonderes Augenmerk gilt im vorliegenden Band dem Erschließen seiner Ideen, Positionen, Argumente und Texte aus einem wissenssoziologischen Blickwinkel. Eine wichtige Rolle, die Halbwachs während seiner intellektuellen Tätigkeit gekonnt und wie fast kein Zweiter in der damaligen Zeit spielte, ist die des Multiplikators der Arbeiten bedeutender ausländischer Autoren in Frankreich: Max Weber, Werner Sombart, Thorstein Veblen, Robert E. Park, Ernest Burgess und John Maynard Keynes verdanken ihre Rezeption in der französischen Soziologie zu einem nicht geringen Teil den Bemühungen Maurice Halbwachs’ (MONTIGNY 2005: 3).

Maurice Halbwachs führte ein intellektuell reiches Leben, das mit seinem Tod im Konzentrationslager Buchenwald im Jahr 1945 ein überaus tragisches Ende erfuhr. International bekannt wurde er in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hauptsächlich als Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses. Die in der jüngsten Vergangenheit vor allem von den Kulturwissenschaften im deutschen und im englischen Sprachraum vorangetriebene Rezeption der soziologischen Gedächtnistheorie von Halbwachs führte allerdings zur Vernachlässigung seiner anderen Arbeiten. Diesen verkürzten und einseitigen Blick auf Halbwachs korrigiert und ergänzt die vorliegende Einführung mit einer Analyse der Arbeiten zur sozialen Klasse und zu deren Lebensweisen, zur Statistik, zur sozialen Morphologie, zum Zusammenspiel zwischen Soziologie und kollektiver Psychologie und auch zum Selbstmord (Abschnitt VI). Dies geschieht nicht zuletzt, um die Produktivität und Originalität des französischen Denkers in diesen Feldern einführend unter Beweis zu stellen.

Methodisch orientiert sich diese Arbeit an der von Lothar Peter ausgearbeiteten Methodologie soziologiegeschichtlicher Forschung (PETER 2001). Peter unterscheidet systematisch zwischen einer ›sozialen‹ (insti