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Es war Freitag, der 23. Juni, und Marie-Luise hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Sie wollte etwas starten, was sich mit viel Glück – sehr viel Glück und noch mehr Optimismus, wenn man ihre Kochkünste zum Maßstab setzte – zu einer jährlichen Tradition entwickeln sollte.
Ein Spargelessen in der Kanzlei.
Beim letzten Versuch waren glücklicherweise keine Opfer zu beklagen gewesen, auch wenn die hölzernen Fasern bei Marquardt zu einem Erstickungsanfall geführt hatten und Mutter bei jeder weiteren sich bietenden Gelegenheit mit Spargelschälern auftauchte, die sie in sämtlichen Schubladen der Kanzlei versteckte und ein subtiler Hinweis darauf sein sollten, wie man dieses zarte Gemüse zu behandeln hatte.
Für mich waren die Wochen zwischen dem 15. April und 24. Juni eine Art nachgeholte Fastenzeit. Egal wo man eingeladen war, es gab Spargel. Egal, welches Restaurant man betrat, es gab eine Spargelkarte. Ein echtes Luxusproblem. Aber irgendwann kommt einem der Spargel zu den Ohren heraus.
»Übermorgen ist Schluss«, hatte Marie-Luise in einem Ton erklärt, als hätte sie mich schon wieder beim Schwarzfahren erwischt. »Dann ist die Spargelsaison zu Ende. Wir sind acht Leute, das sind vier Kilo, mindestens. Und ich will sie aus Jessendorf.«
Es war einer der ersten schönen Abende in diesem Jahr. Ein kalter Frühling hatte sich viel zu lange eingenistet und die Hoffnung auf mediterrane Temperaturen schon zu Ostern unter letztem Schnee bedeckt. Aber jetzt wehte endlich durch die weit geöffneten Altbaufenster der warme Atem der Stadt. Fast schon zu warm für diese Jahreszeit.
»Jessendorf«, murmelte ich und versenkte mich wieder in den Fall des Lkw-Fahrers Josef Kürschner, der die Einfahrt zum Betriebsgelände eines Containervermieters zugeparkt hatte, der daraufhin einen Tobsuchtsanfall bekam und Kürschner als »egoistisches Arschloch« beschimpfte, worauf es zu einem nonverbalen Meinungsaustausch und einer Mittelgesichtsfraktur Kürschners gekommen war.
Die beiden Männer hatten sich längst bei Molle und Korn vertragen, aber Kürschner wollte die Fraktur als Arbeitsunfall geltend machen, da er sie sich bei der Rückkehr von einer Betriebsfahrt zugezogen hatte. Der Fall landete vorm Sozialgericht und auf meinem Schreibtisch. Die Verhandlung war für morgen angesetzt, und ich fand, dass sie ein ausgezeichneter Grund war, nicht auf Spargelfahrt ins Brandenburgische zu gehen.
»Ich hole dich um elf Uhr dreißig ab«, sagte sie nur.
»Moment. Mein Termin ist um elf!«
»Büchner ist der Richter. Der macht immer pünktlich Mittag. Erst recht zum heiligen Wochenende. Also dann?«
Ich hatte mich auf eine langwierige Verhandlung mit einem elendem Paragrafenaustausch aus dem Sozialgesetzbuch vorbereitet und war zugegebenermaßen überrascht, als es genau so kam, wie meine Kanzleipartnerin es vorhergesagt hatte.
Unsere Klage wurde abgewiesen. Denn: Kürschner hatte den Fehler begangen, unmittelbar vor der Schläger