Kapitel1
Ich strampelte wie wild nach oben, um Luft zu kriegen. Als mein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, brach eine weitere Welle über mir zusammen. Salzwasser schoss in meinen Mund, meine Nase, und der Drang nach Sauerstoff wurde übermächtig. Ich japste, hustete, spuckte. Orientierungslos zuckten meine Augen umher, während mein Körper wie eine Stoffpuppe von den Wellen hin und her geschleudert wurde. Ich mobilisierte meine letzten Kraftreserven und schrie um Hilfe. Brüllte gegen das Brausen der Brandung an, während ich nur noch einen Wunsch hatte.Ich will nicht ertrinken. Ich will nicht ertrinken. Ich will nicht … Mit einem Ruck fuhr ich hoch und saß senkrecht im Bett. Meine Schreie klingelten mir noch in den Ohren nach, und mein Körper schauderte vom Nachhall des Traums. Schwer atmend verharrte ich zwischen den Laken und lauschte dem Rauschen der Wellen, das durchs gekippte Fenster drang. Silbriges Mondlicht fiel durch die Jalousien und erhellte das Zimmer. Ich tastete nach der Wasserflasche auf meinem Nachttisch und stellte fest, dass sie leer war. Kurzerhand schwang ich die Beine aus dem Bett, zog einen Cardigan über mein Top und lief die Treppe hinunter. Die Holzdielen knarzten unter meinen Fußsohlen und durchbrachen die gespenstische Stille, die im Haus herrschte. Auf dem Weg in die Küche sah ich, dass Licht auf der Terrasse brannte. Sanfte Gitarrenklänge drangen durch die offen stehende Schiebetür. Stirnrunzelnd warf ich einen Blick auf meine Uhr, versicherte mich, dass es wirklich zwei Uhr morgens war. Tropische Nachtluft strich durch mein verschwitztes Haar, als ich ins Freie trat. Eine feine Brise trug den Geruch des Pazifiks an meine Nase. Den Duft der Plumeriabäume, die hier auf Hawaii überall wuchsen. Mein Bruder Vince saß in einem der Segeltuchstühle und zupfte eine melancholische Melodie auf seiner Gitarre. Als er mich bemerkte, hielt er inne und sah auf. Selbst im schummrigen Licht fielen mir die Schatten unter seinen Augen auf. Der trübsinnige Gesichtsausdruck. Die Ereignisse der letzten Tage hatten auch bei ihm Spuren hinterlassen.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte ich und ließ mich ihm gegenüber auf der Palettenlounge nieder.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Hab ich dich geweckt?«
»Ich hatte nur Durst.«
Keine Ahnung, warum ich ihn anlog. Warum ich ihm nicht erzählte, dass mich Albträume plagten. Oder doch. Ich wusste es. Weil er ein liebeskrankes Wrack war, seit Louisa die Insel verlassen hatte. Sie war Profitennisspielerin und hatte die letzten sechs Wochen bei ihrer Patentante auf Hawaii verbracht, um sich für ihr Comeback bei denUS Open fit zu machen. Sie und Vince hatten sich schnell und heftig ineinander verliebt, aber einsehen müssen, dass sie keine gemeinsame Zukunft hatten. Louisas Leben spielte sich in den großen Tennisstadien dieser Welt ab, mein Bruder hingegen würde bald das Hostel eröffnen, das wir in den letzten Monaten gemeinsam renoviert hatten. Ich hatte meine Sommersemesterferien bei ihm auf O’ahu verbracht und dabei geholfen, dasOhana in altem Glanz erstrahlen zu lassen, hatte Stühle und Tische abgeschliffen, Fensterläden gestrichen, Dielen ausgebessert und Möbel aufgebaut. Es war schön gewesen, so viel Zeit mit Vince zu verbringen, sein neues Leben auf Hawaii kennenzulernen, seinen Alltag, seine Freunde. Umso merkwürdiger war die Vorstellung, bald nach Colorado zurückzufliegen und wieder in einem Hörsaal zu sitzen statt auf dieser Terrasse.
»Ich hätte ihr heute fast eine Sprachnachricht geschickt.«
Ich war in doppelter Hinsicht überrascht. Weil mein Bruder eher zugeknöpft war, was seine Gefühlswelt anbelangte, und weil er nicht der Typ für Sprachnachrichten war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je eine von ihm erhalten zu haben.
»Warum hast du’s nicht gemacht?«
»Wär nicht fair gewesen«, raunte er und fuhr einen Kratzer auf dem Klangkörper seiner Gitarre nach. Ein Überbleibsel von Jim, der uns dieses Haus vererbt hatte. Er war wie ein Großvater für Vince und mich gewesen, auch wenn wir uns nur einmal im Jahr gesehen hatten. Immer dann, wenn wir mit Mom und Dad Urlaub in seinem B&B am Sunset Beach gemacht hatten.
»Wahrscheinlich nicht«, pflichtete ich ihm bei, wenngleich die Romantikerin in mir sich wünschte, er hätte die Nachricht abgeschickt. In den sechs Wochen, die wir hier in direkter Nachbarschaft gewohnt hatten, waren Louisa und ich Freundinnen geworden, und insgeheim trauerte ich immer noch der Tatsache hi