Einleitung
Deutschland, eines der freiesten Länder der Welt, hat ein Problem mit der gefühlten Meinungsfreiheit. In einer Allensbach-Umfrage im Juni 2021 meinten 44 Prozent der Befragten, man könne seine Meinung nicht frei äußern – der höchste Wert, der seit Beginn der Umfrageserie 1953 je gemessen wurde.[1] Zehn Jahre zuvor waren nur 26 Prozent dieser Auffassung.
Selbstverständlich ist die Zahl von 44 Prozent Zweiflern kein Beleg dafür, dass man in Deutschland tatsächlich nicht frei seine Meinung sagen darf. Doch 44 Prozent der Deutschen, die an der Meinungsfreiheit zweifeln, sind dennoch kein Pappenstiel. Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei nicht um eine kleine Minderheit und um die vernachlässigbare Sicht radikalisierter Außenseiter. Vielmehr ist es ein hochdramatischer Befund im Hinblick auf das Demokratievertrauen in unserem Land.
Deutschland, das Land der Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hat auch ein Problem mit dem Vertrauen in seine Leitmedien.[2] Von über 4000 im Jahr 2022 vonRTL/ntv repräsentativ befragten Bürgerinnen und Bürgern gaben nur noch 46 Prozent an, sie hätten »Vertrauen in die Presse«. 55 Prozent vertrauen dem Radio und gerade einmal 32 Prozent dem Fernsehen. Alle Werte sind gegenüber dem Vorjahr gesunken.[3] Dieses Meinungsbild ist kein Einzelfall. Nach einerFORSA-Umfrage von 2022 sagen 43 Prozent der Befragten, der Journalismus sei in den letzten Jahren schlechter geworden.[4] Schon 2015 verzeichnete eine Umfrage von Infratest/Dimap im Auftrag desWDR 42 Prozent Befragte, die deutsche Medien für »nicht glaubwürdig« halten. Ein Drittel sprach von einem in den letzten Jahren gesunkenen Medienvertrauen. 42 Prozent der Befragten meinen, dass es aus der Politik Vorgaben für die Berichterstattung gebe. Und ein Fünftel der Befragten hält sogar den berüchtigten »Lügenpresse«-Vorwurf für berechtigt.[5]
Besorgniserregend ist auch, dass das Vertrauen bei der intensivsten Nutzergruppe der Direktmedien, nämlich den Jugendlichen, einer Studie der Universität Bielefeld zufolge äußerst gering ist: 75,8 Prozent misstrauen den Zeitungen, 71,6 Prozent den Journalistinnen und Journalisten. 37,9 Prozent glauben, dass die Medien absichtlich wichtige Informationen zurückhalten, 32,8 Prozent, dass sie nur ihre eigene Meinung verbreiten.[6] Dazu ist es inzwischen ein fester Topos in der öffentlichen Meinung, dass man besagte Meinung »nicht mehr sagen« dürfe. In einer (nicht repräsentativen) Erhebung desMDR mit immerhin 27 000 Befragten sind 78 Prozent der Auffassung, dass man »bei manchen Themen vorsichtig sein müsse, wie man sich äußert«, 48 Prozent haben zudem »Angst, die eigene Meinung zu äußern«, 59 Prozent halten den »Zustand der Meinungsfreiheit« für schlecht.[7]
Solche Zahlen sind alarmierend. Was ist in Deutschland geschehen, dass das Medienvertrauen nur noch so schwach ausgeprägt ist? Wir wagen in dieser Frage eine Hypothese: Die Migrationskrise, die Corona-Pandemie und zuletzt der Ukraine-Krieg haben die Rolle, die Funktionsweise und das Selbstverständnis der Leitmedien deutlich verändert. Die »Vierte Gewalt« begnügt sich spätestens seit diesen Geschehnissen nicht mehr mit einer umsichtigen Kontrollfunktion des politischen Journalismus. Die Politik, so scheint es, soll von den Leitmedien nicht schlichtwegkontrolliert, nein, sie soll oft genug mit Macht zu Entscheidungengetrieben werden! Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen siemachen. Und das Erstaunliche daran ist, es gelingt ihnen ziemlich gut! Wie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gut dokumentiert, ist der Einfluss der Medien auf die Politik in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich,[8] zuletzt sogar enorm gestiegen, bezahlt allerdings mit dem genannten Preis: dem dramatischen Vertrauensverlust der Bürger in die veröffentlichte Meinung. Denn je einflussreicher die Leitmedien wurden und werden, umso misstrauischer werden ihre Konsumentinnen und Konsumenten.
Doch das Problem ist noch größer. Politik- und Medienwissenschaftler diagnostizieren schon lange die unheilvolle Tendenz, dass die Demokratie, wie wir sie kannten, sich in eine »Mediokratie« transformiert.[9] Das Mediensystem kolonialisiert in dieser Sicht das politische System und lässt es zunehmend nach den gleichen Spielregeln des Aufmerksamkeitskampfes funktionieren. Massenmedial gehetzte und getriebene Politiker, die zudem jede Äußerung, ja, jeden Gesichtsausdruck durch vorauseilende Selbstzensur überprüfen müssen, um nicht skandalisiert zu werden