Gemüse am Boxhagener Platz
Als Lou Berger an diesem verhexten Morgen einen riesigen Rotkohl auf ihren Kopf zurollen sieht, nachdem sie völlig gestresst und in Gedanken versunken am Boxhagener Platz einen Gemüsestand gerammt hat und zu Boden gegangen ist, wird ihr klar, dass sich etwas in ihrem Leben grundlegend ändern muss.So geht das auf gar keinen Fall weiter!
Der Kohl hat ein Mordstempo drauf. In letzter Sekunde versucht Lou, Schlimmeres abzuwenden – sofern das in ihrem engen Rockabella-Kleid überhaupt möglich ist –, und dreht sich reflexartig auf die andere Seite. Aber zu spät, das Ding knallt trotzdem mit voller Wucht gegen ihren Schädel. Kurz wird ihr schwindelig, die Pünktchen auf ihrem Stoff tanzen Polka, da prasselt auch von oben noch mehr Gemüse auf sie herunter. Einige Radieschen plumpsen auf ihren Bauch, andere kullern in ihren Nacken. Das Grünzeug von einem Bund Möhren hinterlässt Spuren in ihrem Mund. Spuckend befreit sie sich von den Resten, so gut es geht. Lou will gar nicht wissen, wie ihr Lippenstift jetzt aussieht. Fest kneift sie die Augen zusammen, ihr Rücken schmerzt vom Aufprall, und wie aus dem Off ertönt jetzt ein lautes Klagen der türkischen Marktfrau. Dann hört sie noch mehr Stimmen, die jetzt langsam zu ihr durchdringen und aufgeregt rufen.
»Ojemine, ojemine, aman Tanrim, aman Tanrim, du meine Güte …«, jammert die Marktfrau, die sich nun über Lou beugt und ihr prüfend auf die Stirn fasst wie eine Mutter ihrem fiebernden Kind.
»Meine Güte«, wiederholt Lou müde.Schrecklich müde fühlt sie sich vielmehr und kraftlos dazu. Aber nicht erst seit ihrem Sturz eben. Bloß hat sie das bisher einfach ignoriert. Wie eine Getriebene hastet sie durch ihr Leben. In Wahrheit verdammt lange schon. Als wäre jemand hinter ihr her. Und das Ergebnis, was bleibt unterm Strich? Ihr Vintage-Klamottenladen deckt gerade so ihre Ausgaben, und das auch nur, weil sie dafür beinahe jede freie Minute investiert. Wann hat sie eigentlich das letzte Mal eine richtige Pause gemacht? Ja, eine Pause von ihrem Leben. Jetzt zum Beispiel. Am liebsten würde sie einfach liegen bleiben. »Liegen ist Frieden«, kommt ihr ein Lied in den Sinn. Das will sie jetzt auch, mitten auf der Straße, zwischen Lauchstangen, Salat, Kartoffeln, Sellerie, Zucchini und Wirsing. Soll die Welt doch sehen, wie sie ohne Lou Berger zurechtkommt. Etwas Labbriges fällt in ihren Ausschnitt, sie ignoriert es. Lou kneift die Augen zusammen. Die Marktfrau wird lauter, versucht, zu ihr durchzudringen, aber Lou mag nicht reagieren. Wie von weither hört sie die Stimmen, während sich die Radieschen weiter in ihren Nacken pressen.Ganz kurz nur, bitte liebes Universum, ein paar Minuten Ruhe, ein bisschen hier liegen dürfen und nicht funktionieren müssen …
Jemand beugt sich über sie