Stellen Sie sich vor, Sie lebten noch im Jahr1993 und ein junger Mann, nennen wir ihn Marty, landet mit einem DeLorean mitten in Ihrem Garten. Er erzählt Ihnen, er sei30 Jahre aus der Zukunft zu Ihnen zurückgereist. Im Jahr2023 leide die Welt unter den Folgen einer gerade zu Ende gegangenen Pandemie, die globale Inflation läge bei8 Prozent, die Engländer seien nicht mehr in derEU, am Rande Europas tobe ein schrecklicher Krieg, Wetterextreme hätten weltweit stark zugenommen, und selbst die ewige Königin ElisabethII. von England winke nicht mehr aus ihrem Auto. Was würde die Vorstellung einer solchen Zukunft in Ihnen auslösen? Attraktiv klingt das nicht. Vermutlich würden Sie Marty eine große Portion Plutonium in seinen Fluxkompensator schütten und ihn mit seinem DeLorean auf Nimmerwiedersehen »Zurück in die Zukunft« schicken. Lang lebe schließlich die Königin. Ist es nicht so? (Falls Sie die gleichnamige Filmserie nicht kennen, empfehle ich Ihnen, diese Wissenslücke dringend zu schließen – nachdem Sie dieses Buch gelesen haben, versteht sich.)
Mittlerweile sind aber genau diese Dinge eingetreten. In vielen Bereichen erleben wir derzeit Dinge, die wir vor wenigen Jahren nicht im Entferntesten für möglich gehalten hätten. Die wirtschaftspolitischen Machtachsen verschieben sich drastisch und mit noch unabsehbaren Folgen. Über allen aktuellen Themen, wie der Zukunft der Industrie, dem Ausbau der digitalen Infrastruktur und Abbau der Bürokratie, dem Fachkräftemangel und der Migrationspolitik, der Sicherung von stabilen Renten und guter Pflege genauso wie dem Klimaschutz, schweben dicke Fragezeichen. Überraschende Wendungen folgen Schlag auf Schlag, und immer wieder neue Probleme erobern die Titelseiten der Tageszeitungen. Fest steht: Das, was gestern galt, gilt heute nicht mehr, und das Morgen liegt in völligem Dunkel. In Kürze soll in unserem Land der Konsum von Marihuana in geringen Mengen legalisiert werden, vielleicht damit wir das alles überhaupt noch aushalten. Die Welt scheint in Teilenver-rückt zu sein.
Die aktuellen Entwicklungen treffen uns weitgehend unvorbereitet, denn in den allermeisten Bereichen des Lebens waren wir in Deutschland bislang Stabilität, Gleichförmigkeit und Sicherheit gewohnt. Das Leben war in unserem Land nicht für alle rosig, aber die Zukunft in den meisten Fällen doch einigermaßengewiss. Nun ist die allgemeine Verunsicherung groß, und viele fragen sich: Was kommt da noch alles auf uns zu?
»Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse«, sagt der Fuchs zumKleinen Prinzen in Antoine de Saint-Exupérys gleichnamigen Meisterwerk.26 Ich möchte daher zu Beginn die beiden Begriffe Ungewissheit und Unsicherheit voneinander unterscheiden, weil sie häufig in einen Topf geworfen werden:Ungewissheit bezeichnet einen Zustand oder eine Situation, in der der Ausgang einer Situation nicht feststeht oder unklar bleibt. Ungewissheit hängt also in erster Linie von objektiven Umständen ab. Beispiele hierfür sind das Wetter, der Aktienkurs oder die Kartoffelernte.Unsicherheit ist dagegen ein subjektives Gefühl, das in uns selbst entsteht. Es ist abhängig von unserem Temperament, aber auch von unseren Erfahrungen, Glaubenssätzen, Erwartungen und unserer allgemeinen Zuversicht. Dieses Gefühl kann von äußeren Begebenheiten völlig unabhängig sein. Einfach ausgedrückt: Ungewissheit beschreibt, was ist. Unsicherheit beschreibt, was die Ungewissheit mit uns macht.
Schauen wir uns einmal an, warum uns Ungewissheit so »nervös« machen kann und gegebenenfalls Unsicherheit in uns erzeugt. Dafür begeben wir uns auf Spurensuche ins Gehirn: Wenn wir uns in dessen vorderem Abschnitt etwas in die Tiefe bewegen, gelangen wir an ein kleines Kerngebiet, das sogenannteCorpus Striatum (Streifenkörper). Es ist Teil unseres motorischen Planungs- und Aktivierungssystems. Aber es ist auch für die innere Wahrscheinlichkeitsvoraussage in einer bestimmten Situation zuständig.27 Wenn eine Angelegenheit völlig klar ist, verhält sich das Striatum ruhig. Aber in allen Phasen, in denen es ein »Vielleicht« gibt, steigt die Aktivität in diesem Kerngebiet. Sie ist maximal, wenn die geschätzte Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer Situation bei50 Prozent liegt:28 Das Wetter könnte umschlagen oder nicht. Das Geld könnte reichen oder nicht. Mein Partner liebt mich oder nicht. Dieses Buch könnte spannend werden oder nicht. (Zur Beruhigung Ihres Striatums: Es wird definitiv spannend!) Kurzum, dasVielleicht erzeugt im Gehirn neurophysiologisch einen besonderen Reizzustand.
Und der ist mitunter nur schwer auszuhalten. In einem Experiment des University College in London bekamen Probanden unangenehme Elektroschocks. Wenn man die Elektroschocks ankündigte, reagierten sie verhältnismäßig ruhig. Auch bei stärkeren Stromstößen nahm der Stress nicht sonderlich zu, solange die Teilnehmer sicher wussten, dass ein Stromstoß folgte. Wenn sie dagegen nicht wussten, wann diese kamen, reagierten sie besonders gestresst. Dies war sogar bereits bei relativ schwachen Stromstößen der Fall. Nicht die Stromstärke machte also den Stress, sondern die Ungewissheit: Kommt da vielleicht gleich was, oder nicht?29 Aus diesem Grund können Menschen schlechte Ereignisse, die vielleicht eintreten, weniger gut ertragen als schlechte Ereignisse, die definitiv eintreten. Das zeigt sich bereits in banalen Situationen des Alltags: Fahrgäste an einem Bahnsteig regen sich mehr darüber auf, wenn sie nicht wissen, ob der verspätete Zug in30 oder45 Minuten kommt, als wenn die Wartezeit mehr als60 Minuten beträgt, dafür aber feststeht und klar kommuniziert wurde.30 In einer Gruppe von Frauen mit Verdacht auf Brustkrebs war die Angst der Betroffenen am größten, solange der Befund der Tumorbiopsie noch unklar war. Der Stress reduzierte sich in dem Moment, in dem die Frauen ihr Ergebnis bekamen, selbst wenn sich der Verdacht eines bösartigen Tumors bestätigte.31
Wie gut können Sie selbstVielleicht-Zustände aushalten? Blättern Sie ans Ende des Buches, wenn Sie eine spannende Geschichte lesen