1
Mittwoch,1. Mai
108 Tage, bis ich gehen kann
Manche Menschen sind dazu geboren, Geschichten zu erzählen. Sie wissen genau, wie sie die Szenerie und die passende Atmosphäre aufbauen, wie sie den richtigen Blickwinkel finden, wann sie für einen dramatischen Effekt eine Pause einlegen oder elegant über unbequeme Details hinweggehen müssen.
Ich wäre keine Bibliothekarin geworden, wenn ich Geschichten nicht lieben würde, aber ich war nie besonders gut darin, meine eigene zu erzählen.
Wenn ich einen Cent für jedes Mal bekäme, das ich mich selbst bei einer Anekdote unterbrochen habe, um zu überlegen, ob das, was ich erzählen will, eigentlichwirklich an einem Dienstag passiert ist oder vielleicht doch an einemDonnerstag, dann hätte ich inzwischen mindestens vierzig Cent, und das bedeutet, dass ich viel zu viel Zeit meines Lebens für viel zu wenig Gewinn verschwendet habe.
Peter hingegen hätte null Cent, dafür aber ein gebanntes Publikum.
Ich liebte besonders die Art, wie erunsere Geschichte erzählte, den Tag unseres Kennenlernens.
Es war an einem späten Frühlingstag vor drei Jahren. Wir lebten damals in Richmond. Nur fünf Blocks trennten sein elegantes, im italienischen Stil saniertes Apartment von meiner mehr shabby als schicken Wohnung.
Auf meinem Weg von der Arbeit nach Hause machte ich einen Umweg durch den Park, was ich sonst nie tat, aber das Wetter war perfekt. Und ich trug einen Hut mit breiter, weicher Krempe, den ich noch nie getragen hatte, aber Mom hatte ihn mir die Woche zuvor geschickt, und ich hatte das Gefühl, es ihr zu schulden, ihn wenigstenseinmal anzuprobieren. Ich las beim Gehen – ich hatte eigentlich geschworen, das nicht mehr zu tun, weil ich auf diese Weise einige Wochen zuvor beinahe einen Fahrradunfall verursacht hätte –, als plötzlich ein warmer Windstoß die Krempe meines Huts anhob und ihn über einen Azaleenbusch wehte. Direkt vor die Füße eines hochgewachsenen blonden Mannes.
Peter sagte, das sei wie eine Einladung gewesen. Er lachte ein wenig selbstironisch und fügte hinzu: »Bis dahin hatte ich nie an Schicksal geglaubt.«
Wenn eswirklich Schicksal war, dann kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass mich das Schicksal zumindestein wenig hasst, denn als er sich bückte, um den Hut aufzuheben, riss ihn ein weiterer Windstoß wieder in die Höhe, und ich rannte ihm hinterher und direkt in eine Mülltonne.
Eine Mülltonne aus Metall, im Boden verankert.
Mein Hut landete auf einem Haufen weggeworfener Chinanudeln, mein Brustkorb rammte den Rand des Mülleimers, und ich landete keuchend auf dem Hintern im Gras. Peter beschrieb das als »entzückend tollpatschig«.
Er ließ den Teil aus, in dem ich eine Reihe Unflätigkeiten schrie.
»Ich habe mich in Daphne in dem Moment verliebt, in dem ich von ihrem Hut aufschaute«, sagte er dann und verschwieg die Müllnudeln in meinem Haar.
Als er mich fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, fragte ich zurück: »Habe ich einen Radfahrer umgebracht?«
Er dachte, ich hätte mir den Kopf angeschlagen. (Nein, bin nur schlecht darin, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen.)
In den letzten drei Jahren holte Peter unsere Geschichte bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus der Mottenkiste. Ich war mir sicher, dass er sie in unsere beiden Ehegelübdeund in seine Rede beim Hochzeitsempfang einfließen lassen würde.
Aber dann kam sein Junggesellenabschied, und alles änderte sich.
Die Geschichte kippte. Erhielt eine neue Perspektive. Und in ihrer Neufassung war nicht länger ichdie weibliche Hauptfigur, sondern stattdessen nur das winzig kleine Hindernis, das von nun an dafür benutzt werden würde,ihre Geschichte etwas aufzupeppen.
Daphne Vincent, die Bibliothekarin, die Peter aus dem Müll gepflückt, beinahe geheiratet und dann am Morgen nach seinem Junggesellenabschied für seine »platonische beste Freundin« Petra Comer sitzen gelassen hatte.
Andererseits, wann würde er ihre Geschichte überhaupt je erzählen müssen?
Alle um Peter Collins und Petra Comer herum kannten ihre Geschichte: Wie sie sich in der dritten Klasse kennengelernt hatten, weil sie sich in alphabetischer Reihenfolge an die Tische setzen mussten, und wie sie dann über ihre geteilte Liebe zu Pokémon-Figuren Freundschaft schlossen. Wie bald da