Prolog
Kerala, Indien,15. Januar1993
Kit schwankt auf seinem Fahrrad, kann gerade noch einem tiefen Schlagloch ausweichen, stützt sich mit einem Fuß ab und betrachtet die Straße, die vor ihm liegt. Es ist eine viel befahrene Schnellstraße voller Lastwagen undSUVs. Hupend braust ein Motorrad in einem schwungvollen Schlenker an ihm vorbei. Hinter dem Fahrer sitzen eng an eng zwei Kinder, und ein Stück roter Stoff flattert wie eine rote Fahne hinterher.
Er verzieht das Gesicht, weil er weiß, dass Summer sich den Weg zum nächsten Dorf wie eine ruhige Landstraße vorstellt, die sich am Meer entlangschlängelt, nicht wie diese von Stau, Abgasen, plärrendem Gehupe und dem Lärm aufheulender Motoren verstopfte Straße. Der Typ im Hotel, bei dem er das Rad gemietet hat, meinte, man würde für die Fahrt eine halbe Stunde brauchen. Reiß dich zusammen, sagt er sich. Das ist doch kaum schlimmer, als im Berufsverkehr um den Marble Arch in London herumzufahren. Er tritt in die Pedale, hält mit gesenktem Kopf Ausschau nach dem nächsten Schlagloch oder einem hochgeschleuderten Stein. Ein kunstvoll bemalter Lastwagen rast vorbei, die Räder kommen ihm so nah, dass er das Reifenprofil deutlich erkennt. Fest umklammert er den Lenker und flucht, als die Wucht des entstandenen Windstoßes ihn fast aus dem Gleichgewicht bringt. Immer weiter, ein Fuß, dann der andere, während seine schweißnassen Hände an den Griffen abrutschen.
Auf den Lippen schmeckt er Schweiß und Staub, dazu kommt der stechende Dieselgestank. Die Sonne ist ein pulsierender Ball aus reiner Energie. Seine Beine fühlen sich schwer an. Aber ihm wird klar, dass es nicht nur an der Hitze liegt. Sein ganzer Körper ist von dem bleiernen Gefühl wie gelähmt, gerade etwas falsch zu machen. Mit jedem Tritt in die Pedale entfernt er sich weiter von ihr. Noch einmal hält er an, stützt sich mit einem Fuß auf der Fahrbahn ab und schaut hinter sich in die Richtung, die zurück zu Summer führt. Bei ihr zu sein ist wichtiger, als für ein paar Skizzen bezahlt zu werden. Das alles ist ein Fehler. Er muss umkehren.
Es dauert eine Weile, bis er es auf die andere Seite der Straße geschafft hat. Sobald er eine Lücke zwischen zwei Lastwagen sieht, muss er die Gelegenheit nutzen. Während sie mit lautem Hupen auf ihn zuhalten, flitzt er hinüber. Zitternd auf dem Seitenstreifen angekommen, nimmt er eine Wasserflasche aus seiner Tasche und leert sie in einem Zug. Er wischt sich das Gesicht mit dem Arm ab und schmiert sich dabei Schweiß und Wasser in die brennenden Augen.
Dabei denkt er daran, wie entsetzt sie sein wird, wenn er ihr diese verrückte Straße beschreibt. Sie wird glücklich sein, dass er wohlbehalten zu ihr zurückgekehrt ist, und sich insgeheim freuen, dass er nicht zu dem Tanzfestival gegangen ist. Den Rest des Nachmittags können sie auf dem Bett zubringen, reden. Es gibt so vieles, was er über sie erfahren möchte. Es ist das erste Mal im Leben, dass er jemanden hat, für den er sorgen, dem er seine Gedanken mitteilen und von den Ereignissen des Tages erzählen will. Er muss alles verstehen, was ihr wichtig ist. Später werden sie vielleicht beim Sonnenuntergang auf dem Weg an den Klippen entlangwandern. In einem der Läden ist ihm eine hübsche Halskette aufgefallen, ein schmales Band aus gewundenen Silberfäden, an denen winzige grüne Steinchen hängen. Sie würde gut zu ihrer Augenfarbe und zu ihren Ohrringen passen.
Sie könnten in ihr Lieblingscafé gehen, an dem kleinen Tisch sitzen und aufs Meer hinausschauen. Und sie werden sich ein üppiges Abendessen bestellen. Andere Frauen, mit denen er früher ausgegangen ist, hatten in ihrem Salat gestochert und so getan, als hätten sie keinen Hunger, obwohl sie dabei die ganze Zeit sehnsüchtig auf sein Essen schielten. Summer wird sich fröhlich Happen von seinem Teller und von ihrem nehmen und ihm einladend zunicken, sich auch an ihrem Essen zu bedienen.
Er kann es kaum erwarten, den kühlen Raum mit den geschlossenen Läden zu betreten, sie schlafend auf dem Bett zu finden und mit einem Kuss zu wecken.
Als er unter dem Schatten der Bananenbäume entlangfährt, überholt ihn ein Motorroller. W