Grassi geht von Bord
Wie gut sie aussah, wenn ihr glattes, nackenlanges schwarzes Haar vom Wind zerzaust ihr Gesicht umspielte. Er konnte ihre Augen hinter den Gläsern der dunklen Sonnenbrille nicht erkennen und wusste doch, welcher Ausdruck darin lag, als Chiara ihn jetzt ansah, die Hände in die Hüften gestemmt: genervte Ungeduld, nur leicht geglättet von einem Anflug von Sorge um ihn. Sie legte sich eine Hand an den Mund, um ihm etwas zuzurufen, das er nicht verstand, weil der Wind die Worte zerfetzte. Sicher war es so etwas wie: »Jetzt stell dich nicht so an, Vito! Andiamo!«
Er sah sich um. Tatsächlich schien er der Letzte an Bord zu sein. Hinter ihm stand nur noch ein bulliger Mann in weißem »5 Terre«-T-Shirt und mit sehr dunkler Sonnenbrille, der ihm jetzt eine große haarige Hand auf die Schulter legte und ihn mit Nachdruck an den Rand des tanzenden Bootes schieben wollte. Aber Grassi wehrte sich. Er hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Ihm war schwindelig und speiübel. Er hatte keinen Blick für die Schönheit der Umgebung, für die bunten Boote in der fast kreisrunden kleinen Bucht unterhalb der Chiesa di Santa Margherita di Antiochia. Grassi versuchte, die Kirchturmuhr zu fixieren, doch er musste die Augen schließen, weil es wieder rapide abwärts ging und sein Magen gleichzeitig Achterbahn nach oben fuhr.
Der Bug des Bootes, von dem aus der wackelige Stahlsteg zur Quaimauer von Vernazza, einer der Ortschaften der Cinque Terre, führte, hob und senkte sich heftig. Immer dann, wenn der Kapitän versuchte, die Position in dem schäumenden Wasser ungefähr vier Meter von der Mauer entfernt zu halten, heulte der Motor auf. Die schmale Brücke rutschte knirschend – Stahl auf Stahl – vor und zurück, schien immer dann nur noch um Haaresbreite an der Bootskante zu hängen, wenn das Boot von einer an die Mauer anbrandenden Welle plötzlich und heftig gehoben wurde und der Steg wie eine steile Rutsche vor Grassis Augen verschwand. Nur um im nächsten Augenblick, wenn der Bug tief in die Wellen tauchte, zum prekären Klettersteig zu werden. Der Commissario hatte Angst, in dem Moment in den brodelnden Grund katapultiert zu werden, in dem er auch nur einen Fuß auf diese wackelige Konstruktion setzte. In seinen Augen war es unverantwortlich, unter diesen Verhältnissen überhaupt die fünf Ortschaften anzufahren.
Andererseits hatte nicht einmal die kleine Rentnergruppe, die mit Chiara, seinem Sohn Alessandro und ihm in La Spezia an Bord gegangen war, Schwierigkeiten beim Ausstieg gehabt, sondern war fröhlich schnatternd übers Wasser gegangen.
Sein zwanzigjähriger Sohn Alessandro stand groß und breitschultrig und mit verschränkten Armen neben seiner Mutter und schien sich innerlich zu winden. Von Kindheit an war es ihm peinlich, wenn sein Vater in der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zog, ob freiwillig oder unfreiwillig. Als die kleine Rentnergruppe bei den Fahrgästen stehen blieb, die ungeduldig auf der Quaimauer darauf warteten, das Boot besteigen zu können, und sich gegenseitig amüsiert auf das Schauspiel des letzten renitenten Touristen aufmerksam machten, gab sich Alessandro einen Ruck. Er schob sich vorbei an dem gestikulierenden Marinaio, der auf der Quaimauer den Steg sicherte, war mit ein paar großen Schritten auf dem Boot und packte Grassi, der sich widerstandslos vom Boot führen ließ wie ein geschlagener Boxer aus dem Ring. Als Vater und Sohn wieder festen Boden unter den Füßen hatten, gab es vereinzelt höhnischen Applaus von den wartenden Touristen.
»Wirklich sehr witzig«, murmelte der Commissario.
An diesem strahlend blauen Montag Mitte Juli waren sie in La Spezia auf das erste Ausflugsboot gestiegen, das die Route über die fünf weltberühmten Dörfer bis Levanto fuhr. Chiara hatte darauf spekuliert, dass Touristen nach dem Wochenende ausschlafen wollten, und damit zumindest teilweise recht behalten. Jedenfalls war das Boot weniger voll, als Grassi in dieser Jahreszeit befürchtet hatte. Es war ihm leidlich gut gegangen, bis sie die Landzunge von Porto Venere passierten, den Golfo dei Poeti verließen und das offene Meer erreichten. Von nun an ging es bergab mit ihm. Und während Chiara und Alessandro entzückt mit gezückten Handys an Deck standen und Fotos der sich spektakulär an dem steilen Felsufer festkrallenden Dörfer Riomaggiore und Manarola schossen, saß Grassi auf einer Bank im Schiffsinneren und behielt schwitzend und konzentriert den Horizont im Auge, weil er gelesen hatte, dass das gegen Seekrankheit helfen sollte. Es half ihm allerdings nicht, und hinter Corniglia bettelte er geradezu darum, in Vernazza an Land gehen zu dürfen. Und dann traute er sich nicht einmal.
Kaum vier Monate zuvor war Commissario Vito Grassi mit seinem Roadster voller Schallplatten, einer Tasche mit zwei Paar Schuhen, wenigen Hemden und Leinenjacketts und einem Kopf voll wirrer Gedanken in Levanto eingetroffen. Weniger mit dem