Mai 1965
HILDE
Der Frühling hat in diesem Jahr auf sich warten lassen. Bis weit in den April hinein sind Wintermantel und Wollschal unentbehrlich gewesen, und die hübschen Frühjahrskostüme der Wiesbadener Damen mussten in den Schränken bleiben. Nun aber, gerade rechtzeitig zu den Maifestspielen, explodiert die Natur im warmen Sonnenlicht. Die Stadt hat sich zu dem alljährlich wiederkehrenden Theaterereignis festlich geschmückt: In den Kuranlagen leuchten bunte Blumenrabatten, die Büsche hat man noch rasch beschneiden müssen, die Rasenflächen sind frisch gemäht, und allerorten weisen Fahnen und Plakate auf die Festspiele hin. In diesen Maitagen ist Wiesbaden international – Touristen aus aller Herren Länder mischen sich unter die Einheimischen, flanieren in der Wilhelmstraße, sitzen in den Straßencafés und finden sich zu den Veranstaltungen der Maifestspiele im Theater ein.
Auch im Café Engel ist Hochbetrieb, denn hier treffen sich die Künstler und Theaterleute, man nimmt noch rasch einen Imbiss vor den Proben, sitzt mit Kollegen bei einem Glas Wein zusammen und diskutiert fachkundig über die Gastveranstaltungen aus Russland oder Frankreich. Und auch die Presseleute schauen vorbei, um diesen oder jenen Künstler zu einem Interview zu bewegen.
Gestern wurde »Katerina Ismailova« von Schostakowitsch im Opernhaus gegeben, da haben Künstler und Gäste hinterher noch bis spät in die laue Nacht hinein an den Außentischen gesessen. Heute ist wieder großartiges Sonnenwetter, und die Außentische sind sogar schon am Vormittag alle besetzt.
Doch drinnen herrscht Gewitterstimmung.
»Ausgerechnet im Mai müssen sie heiraten!«, schimpft Mutter Else. »Können sie denn nicht bis zum Sommer warten? Wenn’s denn schon sein muss …«
Es ist kurz vor eins, unten im Café herrscht lebhafter Betrieb, aber Hilde steht in ihrer Wohnung vor dem Kleiderschrank und stöhnt, dass sie nicht weiß, was sie anziehen soll.
»Zieh das Grüne an«, ruft Mutter Else, die in Hildes Küche sitzt und sich die schmerzenden Beine mit Salbe einreibt. »Das reicht. Hinterher rennst du in Eltville doch nur herum, um die Hochzeitsgäste im Hof zu bedienen.«
»Aber das sitzt nicht mehr richtig«, seufzt Hilde. »Und aus der Mode ist es auch …«
Sie ist nervös, was ihr eigentlich selten passiert. Alles, was das Café betrifft, organisiert sie mit größter Ruhe und Sicherheit. Auch wenn es eng wird, auf Hilde ist immer Verlass. Aber sich für eine Hochzeitsfeier hübsch zu machen fällt ihr schwer. Man ist ja keine Zwanzig mehr, die Hüften sind runder, obenrum hat sie auch zugenommen, und vor ein paar Wochen hat sie die ersten grauen Haare zwischen den blonden Löckchen entdeckt. Und dann ist sie ja auf repräsentative Kleidung auch nicht eingestellt, weil sie tagein tagaus im Café wirkt und meist Rock und Bluse trägt.
»Ich verstehe Mischa ja nicht«, sagt Mutter Else und ächzt, weil sie sich beim Einreiben bücken muss.
»Lass das doch Mama, ich mach es dir gleich …«
»Nein, nein – du musst dich jetzt anziehen, und wir werden ja auch ohne dich fertig«, ist die Antwort. »Aber dass Mischa unbedingt eine Frau heiraten will, die fünf Jahre älter ist – das kann doch nicht gutgehen! So ein hübscher Kerl wie der Mischa, der könnte doch etwas Jüngeres finden …«
Hilde schweigt, weil dieses Thema schon seit Wochen in der Familie heiß diskutiert wird. Mischa und Simone sind mittlerweile seit vier Jahren ein Paar ohne Trauschein, sie wohnen auf Jean-Jacques’ Weingut in Eltville, und Mischa ist auf dem beste