Patricia Görg
Ins Endlose
»Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte.«
(Der Verschollene)
Auf dem Fußboden einer fast unmöblierten Hamburger Wohnung sitzt 1983 Danièle Huillet, neben ihr auf einem Stuhl ihr Partner Jean-Marie Straub. Die beiden Filmemacher proben »trocken«, mit wenigen, nur näherungsweisen Requisiten, zwei Szenen aus Kafkas RomanfragmentDer Verschollene. In der anderen Ecke des Zimmers hockt Harun Farocki mit einer Bierflasche in der Hand als Gauner Delamarche auf dem Boden – und lässt, selbst Filmemacher, nebenbei eine laufende Kamera jene Probenarbeiten dokumentieren.
Straub und Huillet fordern ihren Darstellern sehr viele Wiederholungen ab, bis sie einigermaßen einverstanden sind mit dem entstehenden Sprachkörper. Denn das ist ihr Markenzeichen: Literatur absolut ernst zu nehmen, indem sie Schau-Spiel und psychologisierendes Fleisch, das sie beglaubigen soll, eliminieren oder aufs Zeichenhafte reduzieren, während Sprache ihren starken physischen Auftritt hat. Sowohl mit Profis als auch mit Laien erarbeiten sie einen je eigenen Sprechrhythmus, oftmals aus dem Atemrhythmus der jeweiligen Person – was zu ungewohnten, nicht nach gängigen Erwartungen betonten Sequenzen und ebenso irritierenden Zäsuren im Text führt. Eine Art Sprechoper scheint den Stoff zu überformen. Wie findet man sich da zurecht? »Statuarik!«, »Künstlichkeit!« lauten die Formeln der Ablehnung. Statt des üblichen Erzählkinos, programmiert wie ein Massagesessel für Emotionen, erlebt man bei Straub/Huillet ausgenüchterte, verdichtete Szenen, lange Einstellungen und eine Deklamation, die befremdet, weil sie die Verhältnisse selbst zum Sprechen bringen soll.
Ihr Schwarzweißfilm, der – zum Glück! – gar keine Verfilmung sein will, heißtKlassenverhältnisse.
Zwischen 1912 und 1914, mit längeren Pausen, einmal ganz von vorne ansetzend, schreibt Kafka an seinem Amerika-Roman. Schließlich bricht er ab.
Sein Protagonist Karl Roßmann ist bis dahin im Land der begrenzten Möglichkeiten einem Schicksals-Mahlstrom erlegen, der ihn Umdrehung für Umdrehung in ähnliche Situationen bringt, dabei aber immer weiter nach unten zieht. Obwohl ihm der vorgeblich wohlmeinende Onkel schon am Anfang einbläut, er solle »lernen, seine Stellung zu begreifen«, erweist sich diese als äußerst fragil. Im Laufe der Handlung verliert er das einzige Foto seiner fernen Eltern, den Militärkoffer des Vaters mitsamt den wenigen Habseligkeiten und sogar seine Restfreiheit, denn er gerät in quälende Gefangenschaft. Was ihm bleibt, ist Kafkas schlackenlose, einzigartige Sprache, von einem Verhängnis ins nächste führend, ein angelesenes Amerika ausmalend, in dem der Mensch ins System eingepasst ist wie das Rädchen einer Maschine – natürlich stets ersetzbar durch Bauteile gleicher Ma